Charlottes Traumpferd
gestrigen Tages zu erinnern. Nein, ich hatte nicht geträumt! Won Da Pie gehörte mir! Papa und Nicolas hatten sich die Hand gegeben, und damit war im Pferdehandel das Geschäft besiegelt. Gestern Nacht hatte ich geglaubt, ich würde vor Glück und Aufregung niemals einschlafen können. Nun lag ich da, blickte an die Decke und dachte in aller Ruhe über die Tragweite dieses Pferdekaufes nach.
Won Da Pie würde in eine Box im Reitstall ziehen. Damit stieg ich schlagartig von der unbedeutenden Schulreiterin in die Reihen der Privatreiter auf und kam dadurch in den Genuss zahlreicher Privilegien. Ich würde einen eigenen Spind und einen Schlüssel für die zweite Sattelkammer bekommen. Jeden Tag konnte ich reiten! Ich konnte an den Dressur- und Springstunden teilnehmen, aber ich konnte auch einfach ins Gelände reiten, wenn mir danach war. Nie mehr musste ich mich mit Hanko, Farina oder Flocki herumärgern!
Meine Fantasie galoppierte mit groÃen Sprüngen in eine Zukunft, die durchaus realistisch sein könnte. Reitabzeichen, Maiausritt, Turnier! Ich sah vor meinem inneren Auge die neidischen Blicke der anderen, als es goldene Schleifen und Pokale über mir und Won Da Pie herabregnete. Ich hätte vor Glück schreien können!
Die schönste Trense würde ich für mein Pferd kaufen, den besten Sattel, die weichste Sattelunterlage und die sichersten Gamaschen. Won Da Pie sollte das groÃartigste Pferd im ganzen Reitstall werden.
Ich konnte es kaum erwarten, in den Club zu kommen. Papa, Cathrin, Flori und ich fuhren allerdings erst nach Noirmoutier zur Bank, bei der meine Eltern ein Konto hatten. Direkt vor der Bank zückte Papa sein Handy und fragte mich nach der Telefonnummer des Stallbüros, die ich auswendig kannte. Herr Kessler ging ans Telefon und plötzlich bekam ich einen Schreck. Was sollte ich machen, wenn im Reitstall keine Box mehr frei war? Papa sprach ein paar Minuten mit dem Reitlehrer und machte ein zufriedenes Gesicht, als er schlieÃlich sein Handy zuklappte.
»Und?« Ich sah ihn erwartungsvoll an.
»Won Da Pie wird die Box von Gento bekommen«, sagte Papa. »Herr Kessler lässt dich schön grüÃen und gratuliert dir. Er hat mich gefragt, ob er schon jemandem etwas sagen soll, aber ich meinte, du würdest deine Freunde sicherlich lieber selber überraschen.«
»Oh ja.« Ich nickte. Am liebsten hätte ich auf der Stelle Dorothee angerufen, aber leider reichte das Prepaidguthabennicht mehr. Papa wollte noch einen Rest für etwaige Notfälle auf der Rückfahrt nach Deutschland zum Telefonieren aufheben.
Endlich fuhren wir weiter zum Club. Véronique saà mit ihrem dick bandagierten Knie auf einem Liegestuhl in der Sonne hinten bei den Ställen, als wir eintrafen.
»Guten Morgen!«, rief sie und winkte uns.
»Hallo, Véronique!«, rief ich zurück und rannte sofort zur Box von Won Da Pie. Der braune Wallach streckte seinen Kopf über die untere Türhälfte und wieherte.
»Hört ihr?« Ich lachte und streichelte glücklich die weiche Nase des Pferdes. »Er kennt mich ganz genau!«
»Scheint tatsächlich so.« Papa nickte beeindruckt.
Ich legte Won Da Pie das Halfter an und führte ihn stolz aus der Box. Mein Pferd. Mein eigenes Pferd!
»Du weiÃt es noch nicht, mein SüÃer.« Ich legte beide Arme um seinen Hals. »Aber du gehörst seit gestern Abend mir. Du machst jetzt eine lange Reise, und dann bist du bei mir in Deutschland. Für immer und ewig.«
Ungeduldig befreite sich der Wallach aus meiner Umarmung und suchte in meinen Taschen nach einem Leckerbissen. Meine Geschwister betrachteten ihn aus sicherer Entfernung. Mittlerweile war Nicolas aufgetaucht. Papa und er gingen ins Büro, um das Geschäftliche zu regeln. Als sie später zurück zum Stall kamen, überreichte mir Nicolas einen abgegriffenen Umschlag.
»Darin sind seine Abstammungspapiere, Impfpass und ein Gesundheitsattest vom Tierarzt. Ich habe ihn untersuchen lassen, bevor ich ihn gekauft habe. Er ist kerngesund.Du wirst sicher viel Freude mit ihm haben und gemeinsam mit ihm viel lernen.«
»Das glaube ich auch.« Mit einem Mal war ich richtig wehmütig. Ich hatte mich sehr wohl gefühlt im Club mit Nicolas, Véronique, Rémy, Cécile, Sophie, ja, sogar mit Thierry. Sie standen alle da, um sich von mir zu verabschieden. Würde ich sie jemals
Weitere Kostenlose Bücher