Chemie der Tränen
Spielkarte.
Ich war nie ein Abenteurer, für Abenteuer war ich ungeeignet. Wäre ich tatsächlich ein wahrer Freund, wäre ich daheim geblieben.
Catherine
Ich hatte schreckliche Angst vor meinem ersten Gang zum Friedhof, würde meinen Geliebten aber nicht im Stich lassen. Ich machte das Bett und stopfte Wäsche in die Waschmaschine. Ich fegte die Cornflakes auf und spülte das Whiskyglas, räumte die Flaschen fort und machte mir eine Tasse Tee. Ich setzte mich wieder an den Tisch, fand meine Lorazepam und kaute eine Tablette. Es war erst acht Uhr, also dachte ich, ich könnte ein kleines bisschen Zeit mit Henry Brandling verbringen. Ich blätterte die nächste Seite im Notizheft auf und fand eine mit rostiger Klammer angeheftete Postkarte von Karlsruhe. Auf den folgenden beiden Seiten entdeckte ich noch mehr Gesammeltes, doch blieben die restlichen Seiten leer, alle, ausnahmslos. Erst als sich mir die Kehle zuschnürte begriff ich, wie sehr ich mich darauf verlassen hatte, dass Henry weitermachen würde. Jetzt sah ich, dass er es vielleicht nicht getan hatte. Durchaus möglich, dass auch die übrigen Notizhefte in der Teekiste leer waren.
Ich suchte meine Sachen für die Arbeit zusammen, als mir aufging, dass Sonntag war und ich niemanden anrufen und mir keine Geschichte ausdenken konnte, die mir Zugang zur Werkstatt gewährt hätte.
›Wochenendarbeit in den Werkstätten nur mit Sondergenehmigung.‹
Somit ließ ich mir ein Bad ein, lag im lauwarmen Wasser und betrachtete meinen armen, mageren, ungeliebten Körper, mein Seegrashaar. Ich weinte. Ich wusch mir das Haar mit Shampoo und Spülung und weinte wieder. Selbst im Bad konnte man die Hitzewelle spüren, all die laufenden Motoren, die Autobahnen bis zum Horizont und weiter. Ich föhnte mein Haar. Ich hatte schönes Haar, war mir gesagt worden. Ich benutzte Preparation H, um die Entzündung rund um die aufgequollenen Augen zu lindern.
Ich wusste nicht, wo sie Matthew versteckt hatten, also rief ich beim Friedhof an, und man beantwortete meine Fragen so freundlich, dass ich fast die Fassung verloren hätte. Dabei war ich gewappnet gewesen. Ich hatte damit gerechnet, dass man mich fragen würde, ob ich seine ›Gattin‹ sei und ob ich das auch belegen könne. Dieser junge Mann aber war gar nicht so. Er sprach mit einem süßen West-Country-Akzent und wartete geduldig, während ich einen Stift suchte und mir Grabstellennummer und Wegbeschreibung notierte. Er sagte, es sei ein sehr schöner Teil des Friedhofs. Erst gestern sei er dort vorbeigegangen. Es standen dort viele Bäume, »ein wahres Refugium« bei dieser Hitze.
Ich wäre trotzdem nicht gegangen, doch kurz nach zehn fiel mir auf, dass die Mieter der oberen Wohnung zurückgekehrt waren und der ehemalige Parlamentssprecher beschlossen hatte, den Rasen zu mähen. Der Lärm war infernalisch. Also ging ich aus dem Haus.
Ich konnte mit der Bakerloo Line nach Kensal Rise fahren. Die U-Bahn habe ich noch nie gemocht, und an diesem Tag fand ich sie besonders unangenehm. Später stellte sich heraus, dass es der heißeste Apriltag seit vierzig Jahren gewesen war. Auf dem Bahnsteig herrschten 47 Grad, was ich aber nicht wusste, und als ich in Panik geriet, meinte ich, selbst schuld an meinen klaustrophobischen Ängsten zu sein. Ich nahm mir vor, ihnen nicht nachzugeben.
Am Oxford Circus jedoch floh ich und rannte die Rolltreppen hinauf. Ich redete mir ein, bloß Blumen besorgen zu wollen, nur gab es Blumen in Kensal Rise, nicht aber am Oxford Circus. Dann beschloss ich, den Bus zu nehmen, war allerdings zu aufgeregt, den Stadtplan zu lesen, und stieg in den Bus nach Westbourne Grove, da ich wusste, er kreuzte die Harrow Road, und der Friedhof lag an der Harrow Road.
Ich verpasste die Haltestelle Harrow Road, stieg eine weiter aus und sagte mir, ich könne mir die Pause gönnen und zur Ruhe kommen. Matthew lag eingesargt unter der Erde, fürchterlich aufgequollen, und all das Schöne an ihm verkam zu einer Fabrik, die Methan produzierte, Kohlendioxid, Gestank nach verfaulten Eiern, Ammoniak. Ich fürchtete mich vor dem, was ich wusste.
Zu Fuß hätte ich ihn in vierzig Minuten erreichen können, wollte aber die aufgebrochene Erde nicht sehen. Also beschloss ich zurückzukommen, wenn Gras übers Grab gewachsen war. Ich kehrte ihm den Rücken und ging in Richtung Notting Hill Gate. Matthew, dachte ich, verzeih. Du hättest mich nie so allein gelassen. Dabei hatte er natürlich genau das getan.
Engländer mit
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