Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
kaum ein freundliches Wort miteinander gewechselt hatten, übermannte ihn die Trauer. Sie war tapfer gewesen. Eine tapfere, mutige Frau. Sie hatte ihm gefallen. Was sollte er machen, fast alle gefielen ihm. Nicht zuletzt Chiara. Er betrachtete die leicht aufgeraute Wasserfläche, die unter dem bewölkten Himmel nur eine gleichgültige, dunkle Farblosigkeit spiegelte. Zwischen all seinen widerstreitenden Gedanken bahnte sich einer seinen Weg nach oben wie ein Kork, der sogar auf dieser Fläche gerne tanzen mochte: Er empfand keine Angst! Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er keine Angst. Er nahm eine der Champagnerflaschen, deren schwarzgoldene Hälse wie Sprengköpfe aus den Schächten einer großen, fix montierten Eisbox ragten und schoss den Kork in hohem Bogen auf die Kräuselwellen. Er fand Gläser und sogar ein Tablett mit Lachsbrötchen, die den Hochzeitern den Weg nach Venedig verkürzen sollten. Hungrig verschlangen sie die Brötchen und spülten sie mit dem Champagner hinunter als wäre er ordinäres Wasser.
95___
Obwohl es einige Jahre her war, erkannte Chiara die Einfahrt sofort. Sie steuerte in das fast leere Hafenbecken. Die durchwegs wohlhabenden Bootseigner ließen ihr teures Spielzeug den Winter über aus dem Wasser hieven. Manche nahmen es mit, viele stellten es auf einem Areal in der Nähe ab. Hinter einem hohen Zaun reihte sich Boot an Boot, aufgebockt und mit fest verzurrten Planen abgedeckt.
Kein Mensch ließ sich blicken. Das Becken war der Länge nach zweigeteilt. Nur ganz wenige Standplätze waren um diese Jahreszeit belegt.
„Kannst du festmachen?“ fragte sie.
„Kannst du anlegen?“ erwiderte er.
Sie zuckte nur die Achseln.
„Wir machen es nicht fest, wir steigen einfach aus.“
Sie trieben quergestellt auf die Mauer am landseitigen Ende des Beckens zu. Die Bordwand stieß sanft gegen ein paar alte Reifen, sie sprangen auf den Kai. Der ausgestorbene Hafen brachte Chiara auf die Idee, ihre Spur ein wenig zu verwischen. Sie lief zu dem abgesperrten Gelände und spähte durch den hohen Maschenzaun zu den militärisch aufgereihten Yachten. Einige Plätze waren unbesetzt. Sie nahm den A-Grav aus der Tasche. Unter der Berührung ihrer Hände erwachte er und öffnete sich. Sie nahm ihr Boot ins Visier, das sich mittlerweile führerlos, wie unentschlossen, im Becken drehte. Langsam hob sie es aus dem Wasser, beschrieb einen Bogen über die Anlegestellen und den Zaun, dirigierte es gefühlvoll über eine offene Halterung und setzte es ab. Wer immer danach suchen mochte, würde wohl nicht an diesem Ort damit beginnen. Zufrieden wandte sie sich um – und erstarrte.
Nur wenige Schritte vor ihr saß ein Mann in einem Rollstuhl. Seine Beine und sein Rumpf waren in Decken gehüllt. Er trug eine dicke Jacke mit hohem Kragen, lederne Fäustlinge und einen tief in die Stirn gezogenen schwarzen Hut. Ein um die untere Hälfte seines Gesichts geschlungener Schal und Sonnenbrillen mit großen spiegelnden Gläsern – trotz des diffusen Morgenlichts unter bewölktem Himmel – sorgten dafür, dass sie nur ein kleines Stück seines Nasenrückens und seiner Wangen sehen konnte. Seine Haut ähnelte der Struktur alten Pergaments von einem dunklen Rot mit blauen Schatten. Sie überlegte unwillkürlich, ob es sich um die Spuren einer Verbrennung handelte. Ganz automatisch hatte sie den A-Grav wieder in seinen Behälter geschoben. Weiter hinten stand Ernst, regungslos und hilfreich wie meist.
„Ich habe Sie nicht kommen sehen.“
Er antwortete nicht. Sie betrachtete die deutliche Spur, die sie zwischen Asphalt und Zaun im angewehten Sand und Staub hinterlassen hatte. Auch der Rollstuhl stand in diesem Streifen von mehreren Metern Breite. Doch der Boden rund um ihn schien völlig unberührt.
Plötzlich hörte sie seine oder irgendeine Stimme, denn sein Gesicht, der Schal, die Haut blieben unbewegt.
„Erschrecken Sie nicht, Dr. Fontana. Ich will Ihnen nichts Böses.“
Chiara war wie vor den Kopf geschlagen. Sie brauchte Sekunden, um wieder sprechen zu können.
„Woher kennen Sie mich?“
Mit einer leichten Bewegung seiner Hand wischte er ihre Frage weg.
„Sie sind ein interessanter ...“ Er zögerte einen Moment, als müsste er nach dem Wort suchen. „Mensch. Ich wollte Sie selbst sehen.“
„Wer sind Sie?“
„Mein Name ist ...“ Wieder zögerte er. „Jakob. So heiße ich.“
„Nur Jakob?“
„Ja.“
„Warum sagen Sie, Sie wollten mir nichts Böses?“
„Ich dachte, Sie
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