Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
um genauer zu sein – von seiner Zeitzelle freigegeben worden. Doch daran fehlte ihm jede Erinnerung. Wollte er nicht Chiara abholen, um mit ihr etwas zu unternehmen? Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit Ordnung in seine Gedanken bringen. Doch dazu hätte es ganz anderer Methoden bedurft. Schließlich zuckte er die hageren Achseln, sah nach, ob er etwas Geld in den Taschen hatte und trottete davon. Sein Ziel war das Double-X.
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Chiara traf Antonio noch am gleichen Abend. Da hockte er bereits in Tränen aufgelöst auf seinem Sofa. Die Polizei hatte ihn vom Tod Elenas benachrichtigt. Sie sei in einen schrecklichen Autounfall in der Nähe Udines verwickelt gewesen. Vier Personen seien zu Tode gekommen, nur durch einen Zufall konnte seine Schwester so rasch identifiziert werden. Kein Wort von Schusswunden oder einem erbitterten Kampf.
„Wer mochte an dieser Version ein Interesse haben?“ überlegte sie. „Und so viel Macht, sie durchzusetzen?“
Antonio versicherte, dass er sofort nach Udine reisen würde. Binnen einer Stunde überlegte er es sich anders und überließ es Chiara, die Formalitäten für die Überführung des Leichnams seiner Schwester nach Florenz zu erledigen. Es war haargenau der Antonio, wie sie ihn seit jeher gekannt hatte. Bis auf jene Tage, als er mit ihr die Expedition zum Parello-Gut unternahm.
Diese Zeit, die aufregendste seines Lebens, schien komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht. Als sie den A-Grav erwähnte, Antonios eigene Wortschöpfung, bemerkte er nur, dass er von dieser Marke noch nie gehört habe.
„Welche Firma?“ fragte er zerstreut und meinte einen Autoproduzenten.
„Ich bin vergesslich geworden“, vertraute er ihr an. „Wir beide wollten uns doch treffen, oder? Aber ich kann mich nicht daran erinnern, was wir vorhatten. Weißt du es noch?“
Chiara verneinte. Sie kehrte heim in ihr Nest und fühlte sich schuldig und unglücklich.
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Dasselbe wiederholte sich, als sie ihren Vater besuchte. Zumindest ihm wollte sie ihr Herz ausschütten, ihm den A-Grav, den sie ständig bei sich trug, zeigen. Aber als er ihr die Lammkoteletts servierte und von seiner Reise nach Madrid schwärmte, Andenken hervor holte und zuletzt – natürlich – einige Geschenke für sie, da machte er einen so zufriedenen und gleichzeitig zerbrechlichen Eindruck ...
Zugleich zeigte er sich entsetzt über Elenas Unfall. Sie erinnerte sich daran, wie er nach dem Tod ihrer Mutter abgeglitten war und wie viel Zeit und Kraft es gekostet hatte, ihn wieder auszubalancieren. Sie wusste plötzlich, dass ihn ihre Geschichte gefährlich aus dem Gleichgewicht bringen würde. Immerhin war sie dabei mehrmals in Gefahr geraten. Durchaus möglich, dass sie immer noch in Gefahr schwebte. Sie dachte an Elena, wie sie in dem dunklen Wäldchen in Udine kniete, während das Leben aus ihr entwich. Und während sie wieder der Schmerz über den Tod der Freundin packte, wurde ihr endgültig klar, dass sie ihm nichts davon erzählen durfte. Sie bemühte sich um ein Lächeln, trank und plauderte mit ihm und ließ sich spät abends wohl behütet in einem Taxi des Deutschen nach Hause bringen.
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In den nächsten Tagen begriff sie, dass niemand etwas wusste oder Fragen stellte oder Neugier an den Tag legte. Nicht Antonio, nicht ihr Vater, nicht die Kollegen im Museum, keiner ihrer Freunde. Niemandem war ihre tagelange Abwesenheit aufgefallen.
Chiara recherchierte die Zeitungsmeldungen im Internet. Nichts von einem tödlichen Drama beim Stadio Friuli. Dafür ein schrecklicher Unfall auf der Autobahn bei Udine. Ein mit vier Personen besetzter PKW fuhr nach Zeugenaussagen mit weit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Tarvis. Der Fahrer verlor die Kontrolle – möglicherweise aufgrund eines technischen Defekts – das Auto überschlug sich, flog über die Leitschiene und prallte gegen eine Brückenmauer. Es gab etliche Augenzeugen und Fotos vom Unfallort. Keiner der Insassen überlebte das Unglück.
Chiara fand auch Fotos von den Personalausweisen der Opfer. Ganz oben Elena, darunter Fahed, Abed und Gianni.
Sie war überzeugt davon, dass keine Behörde – auch wenn sie ihnen den schlechtesten Willen unterstellte – eine so gelungene Fälschung hinbekommen hätte. Es gab auch kein Motiv dafür. Oder doch?
Keinerlei Aufregung in den österreichischen Zeitungen. Der Bagger war zu schwer oder die Brücke zu schwach gewesen. Alles provisorisch repariert und vergessen. Zwei tote Biker als Fußnoten.
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