Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
hätten Angst vor mir. Menschen haben schnell Angst. Sie wohl nicht.“
„Sie hinterlassen keine Spuren“, sagte Chiara. „So etwas macht Menschen tatsächlich Angst.“
Wie zur Bestätigung trat sie einen Schritt zur Seite und wieder zurück. Sie sah nach unten und sah, dass auch sie keine Spur hinterlassen hatte. Sie ertappte sich bei dem Verdacht, gerade wieder in einem ihrer Wachträume gefangen zu sein. Im Hintergrund stand Ernst immer noch wie eine Statue. Selbst für ihn ein wenig ungewöhnlich. Als ihr Blick weiterschweifte, merkte sie, dass auch alle Natur wie erstarrt war. Sogar dem sanften Heben und Senken des Meeres im Hafenbecken und der Kräuselung seiner Oberfläche fehlte jegliche Bewegung. Eine Möwe, die sich gerade vorhin von einem der Poller abgestoßen hatte, hing einige Meter entfernt regungslos in der Luft.
Der Mann im Rollstuhl kicherte. „Es ist kein Traum, glauben Sie mir.“
Er hob die Arme. Das, was Chiara für Fäustlinge gehalten hatte, entfaltete sich zu Händen mit fünfgliedrigen Fingern. Sie zogen den Schal nach unten und enthüllten ein Gesicht, wie sie es noch nie gesehen hatte. Die Farbe, das tiefrot-bläuliche Pergament, war noch das Gewöhnlichste daran. Die Nasenspitze schien an der Oberlippe festgewachsen zu sein. Statt normaler Nasenlöcher, öffneten und schlossen sich seitliche Schlitze. Die Mundwinkel reichten weit zurück, bis zu den Backenzähnen, falls dieses Wesen Backenzähne besaß. Es besaß jedenfalls viele Zähne, als es lächelte. Falls es sich um ein Lächeln handelte.
„Wir sehen uns wieder“, sagte es.
„Ich kann es kaum erwarten“, entgegnete sie schwach.
Im nächsten Moment erschien die Spur ihres Seitenschritts auf dem Boden. Der Rollstuhl verschwand. Das Meer bewegte sich, die Möwe flog, Ernst rief, begeistert wie ein kleiner Junge: „Cool, Chiara!“
Dann lachte er. Sie zweifelte nicht daran, dass er ihre Aktion mit dem Boot meinte. Der A-Grav baumelte noch an ihrer Seite. Sie beschloss, die Szene mit dem Mann im Rollstuhl – falls es ein Mann im Rollstuhl gewesen war – trotz dessen anderslautender Beteuerung geträumt zu haben. Wachtraum, Vision, Botschaft, wie auch immer. Trotzdem wollte sie eine Bestätigung.
„Hast du ihn auch gesehen?“ fragte sie schroffer als beabsichtigt.
Vanettis verblüffter Gesichtsausdruck war Antwort genug. Als sie auf ihn zuging, erweckte er plötzlich den Eindruck, als wollte er sie umarmen. Vielleicht ein andermal. Sie umrundete ihn und folgte dem Zufahrtsweg. Er, ein bisschen ernüchtert, hielt sich schräg hinter ihr. So gelangten sie in wenigen Minuten auf die Straßenverbindung zwischen Monfalcone und Grado.
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Wächter, Eintrag 731.435
Die Auseinandersetzung zwischen den Schöpfern wird immer komplizierter und das könnte ernste Folgen für euch haben. Ich meine damit nicht jene Zucht- und Kreuzungsprogramme, von denen ihr zweifellos profitiert. Die Anzahl der Exemplare, die während der vorbereitenden Forschungen Schaden nehmen, erreicht kaum jene der Versuchstiere, die ihr für eure medizinischen, pharmakologischen und kosmetischen Anstrengungen verbraucht. Und das Ziel ist, mit Verlaub, doch ein deutlich höheres. Bei eurer Bevölkerungszahl fällt der kleine Aderlass auch absolut nicht ins Gewicht.
Nein, mit ernsten Folgen meine ich den Grundkonflikt der Schöpfer, ihren Bürgerkrieg. Wer da zwischen die Fronten gerät, ist rasch ein Kollateralschaden – auf einen Planeten mehr oder weniger kommt es in diesem Kampf nicht an. Ihm und mir kann aufgrund unserer Beschaffenheit dabei nichts passieren, aber um euch täte es mir doch ein bisschen leid. Ein Schöpfer würde das nicht verstehen. Den Verlust von minderem Material tut er mit einem Achselzucken ab. Ich habe mich jedoch an euch gewöhnt – zum Teil aus Eigeninteresse, wie ich gestehen muss. Schließlich bin ich dazu verdammt, auf unabsehbare Zeit in eurer äußeren Gestalt zu existieren. Die Vorstellung, als einziges Exemplar im ganzen Universum so auszusehen, ist nicht gerade verlockend. Und geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid, ihr versteht schon. Auch deshalb würde ich euch vermissen.
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Antonio stand auf dem Gehsteig vor seiner Haustüre und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er hierhergelangt war. Eine Mutter mit zwei Bambini an den Händen sah ihn an wie einen Geist und zerrte ihre Kinder rasch an ihm vorbei. Man konnte es ihr nicht verdenken, war er doch buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht oder –
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