Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
dem Nachbarhaus entkommen – und damit außer Reichweite . Oder er steckte noch in einem der beiden Häuser – und das ließe sich überprüfen. Er wünschte dringend, dass er diese Möglichkeit schon vorher bedacht hätte. Denn obwohl der Bartträger noch mit seinen Gefährten sprach, wurde sein Blick anscheinend magnetisch von Vanettis Versteck angezogen. Vanetti versuchte diesem Blick auszuweichen, aber seine überwachen Instinkte versicherten ihm, dass der Mann aus dem Mercedes drauf und dran war, die Nische genau zu überprüfen. Er hatte, allein aus zu kurz greifender Logik und einer seltsamen Neugier heraus, auf die falsche Karte gesetzt.
Plötzlich hörte er die vertraute, stets vom Wein getrübte Stimme des Hausmeisters.
„Was ist da los? Was’n los? Da is’ kein Durchgang, Herrschaften. Entfernen Sie Ihnen ...“
Ohne ein Gegenwort brach die Litanei ab. Vanetti hörte einen Schlag, ein Gurgeln, ein Schleifen an der Wand und einen Fall. Einfache, schlichte Geräusche. Schreckliche Geräusche. Er erwog, aus seinem Versteck auszubrechen wie der Hase aus dem Unterholz, wenn die Treiber nahen. Doch die Jäger gaben auf. Er hörte ihr Getuschel und die sich rasch entfernenden Schritte. Er hörte auch Schritte von oben, aus dem Stiegenhaus. Er hörte die zufallende Haustür. Da trat er aus seinem Versteck. Der Hausmeister lag rücklings auf dem Boden, den linken Ellbogen an die Wand gelehnt, ein Knie halb angezogen. Aus seiner Brust ragte ein Messergriff. Er ähnelte auf unheimliche Art den Steakmessern, die Vanetti verwendete. Es war kaum Blut zu sehen. Ohne recht zu wissen, was er tat, bückte er sich und versuchte am schlaffen Hals des Mannes ein Lebenszeichen zu ertasten. Vergeblich. Die weit aufgerissenen Augen starrten an die Decke. Vanetti, der noch nie so unmittelbar mit dem Tod zu tun gehabt hatte, schloss dem Toten die Lider. Ein Hauch von grünem Veltliner hing in der Luft.
55___
Vanetti sah auf die Uhr. 18:47. Kurz nach 10 hatte er die E-Mail der Italienerin gelesen, jetzt lag ein Toter zu seinen Füßen – ermordet von Unbekannten, die ihn , Dr. Ernst Vanetti, Astrophysiker mit Frauenproblemen und einem Rucksack voller Phobien, in ihre Gewalt bringen wollten. Binnen eines halben Tages hatte sich sein Leben entscheidend verändert. Er blickte nochmals auf den Messergriff. Eindeutig Laguiole. Sehr unwahrscheinlich, dass es sich nicht um eines seiner Steakmesser handelte. Vanetti hastete zurück ins Stiegenhaus, seiner Wohnung entgegen. Zwischen dem zweiten und dritten Stock begegnete er dem Studentenpärchen, das seit einem Jahr zwei Türen neben ihm wohnte. Sie grüßten ihn. Er grüßte zurück, weiter nichts. Er wusste, dass er sich nicht so verhielt, wie es die Polizei von ihm erwarten würde. Er konnte nicht anders. Die Panikattacke hatte eingesetzt, als die weißen Arme aus der Wohnung nach ihm griffen. Vanetti kannte den Zustand. Er sah, hörte, fühlte und dachte schärfer als sonst. Unnatürlich scharf und intensiv. Aber zugleich benahm er sich, als ob ein anderer für ihn handelte. Als ob er selbst als erstarrter Beobachter im Hintergrund stünde, nur imstande zu beobachten, was dieser andere Wille für ihn – doch ohne sein Zutun – dachte und tat. Er wirkte höchst aktiv und zugleich unfähig, die Steuerung zu übernehmen. Er betrachtete sich selbst wie einen Film, den er nicht verstand – und den er überhaupt nicht mochte. Seine Wohnungstür stand offen, sein Schlüsselbund steckte. Er zog ihn ab, trat in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Er machte Licht auf die Gefahr hin, dass sie die Wohnung im Auge behielten. Wahrscheinlich taten sie es nicht, weil sie jeden Augenblick mit der Ankunft der Polizei rechnen mussten. Sie hatten gründlich gesucht. Ein Schlachtfeld. Kalter Zorn durchfuhr ihn beim Anblick der aufgeschlitzten Einbände alter, ehrwürdiger Bücher. Bilder lagen auf dem Boden, Polstermöbel waren aufgeschnitten und ausgeweidet, Teppiche umgedreht, Läden herausgezogen und geleert. In allen Räumen das gleiche Chaos. Die offene Laguiole-Kassette lieferte nur eines von vielen Details. Von den 16 Messern lagen zwei auf dem Küchenboden, ein halbes Dutzend stak in Pölstern und Möbeln, eines im Hausmeister.
Sie hatten sich auch den Kühlschrank vorgenommen. Er hob eine heil gebliebene Wodkaflasche auf, schenkte ein Wasserglas halb voll und trank es aus. Dann ging er in das ehemalige Arbeitszimmer seines Vaters. Es sah hier nicht anders aus als in den
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