Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
anderen Räumen. Die Schubladen des Schreibtischs und des großen Sekretärs lagen entleert auf dem Boden. Papier und unzählige kleine Gegenstände bedeckten den Teppich. Darunter ein Foto seiner Eltern. Er hob es auf und sah sie an. Die schöne, gelassene Mutter, der cholerische Vater, sichtlich am Ende seiner Geduld, was exakt dem Normalzustand seines Lebens entsprach.
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Die Vanettis waren vor mehr als 300 Jahren nach Wien gekommen. Generationenlang handelte die Familie erfolgreich mit Tuchen und Stoffen. Erst Vanettis Vater hatte an dem Geschäft kein Interesse mehr gezeigt. Er entwickelte sich mit Leib und Seele zu einem Botaniker. Ohne Zweifel hätte er eine glänzende Universitätskarriere gemacht, wenn er sein Temperament besser unter Kontrolle gehabt hätte. Seine Streitsucht war legendär. Kein Kollege nah und fern, den er nicht in erbitterte Auseinandersetzungen verstrickte. Aufgrund des Vermögens, das seine Vorfahren angesammelt und klug bewahrt hatten, konnte er sich ein Leben als Privatgelehrter leisten. Seinem einzigen Sohn hatte er dieses Vermögen, wenn auch deutlich reduziert, und seine Leidenschaft für die Naturwissenschaften hinterlassen.
Das Familienleben der Vanettis verlief wie der Zeiger eines Seismographen, der eine endlose Reihe von Beben und Eruptionen aufzeichnet. Das Epizentrum bildete stets der Vater, der auch in seinen Ruhephasen einem aktiven Vulkan zwischen zwei Ausbrüchen glich. Einem Vulkan, der immer nur kurz Atem holte. Vanettis Mutter, eine sehr kluge Frau mit unerschütterlichem Gemüt, sagte einmal zu ihrem Sohn: „Ich bewundere deinen Vater aus verschiedenen Gründen. Doch was mich an ihm wirklich jeden Tag in Erstaunen versetzt, ist der Umstand, dass ein Mensch mit seinen Veranlagungen so lange überleben kann.“
Tatsächlich bezahlten beide Eltern diese Veranlagung mit ihrem Leben. Der Gelehrte, unterwegs nach Graz zu einem dringenden Termin, konnte nicht fassen, dass eine stehende Autokolonne vor ihm keinerlei Rücksicht darauf nahm. Er lenkte wutentbrannt auf die Gegenfahrbahn und beschleunigte unablässig bis zu jener Kurve, in der ihnen ein Schwertransport entgegen kam.
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Längst hätte er die Polizei rufen müssen. Als Opfer eines Einbruchs und mehr noch als Augenzeuge oder jedenfalls Ohrenzeuge eines Mordes. Der unbescholtene Bürger, Akademiker und wissenschaftliche Mitarbeiter des astronomischen Instituts der Universität Wien konnte sich nicht erklären, was um ihn herum vorging und schon gar nicht die Ursache dafür – das zu klären wäre Aufgabe der Kriminalpolizei gewesen. Der erstarrte Betrachter Vanetti wusste genau, dass er sie rufen musste. Aber der handelnde Vanetti kniete nieder und begann selbst zu suchen. Er fand rasch den Inhalt der Lade, in der sein Vater mit seiner alles durchdringenden Akribie wichtige Erinnerungsstücke gesammelt hatte. Es handelte sich vor allem um Dokumente: Kaufverträge, Testamente, Geburts- und Sterbeurkunden, militärische Auszeichnungen, bürgerliche Ehrungen und behördliche Genehmigungen aus drei Jahrhunderten, die mehrere Mappen füllten. Sie waren bei den Eindringlingen auf wenig Interesse gestoßen und hatten ihren Vandalismus unbeschädigt überstanden. Darunter auch das älteste Stück aus dem Jahr 1700. Ein Schreiben des bambergisch fürstbischöflichen Gerichts, ein Protokoll über die „Auffindung des Leichnams des Emilio Vanetti“ auf dem Hausnerfeld östlich von Villach, nahe der Drau. Es war in zeitgenössischer Kanzleischrift gehalten, die jedoch – wie Vanettis Vater immer kritisch anmerkte – in unzulässiger Weise mit der privateren Kurrentschrift vermischt worden war. Ein Umstand, den der Wissenschaftler dem Urheber des Dokuments fast 300 Jahre später noch übel nahm.
Obwohl es sich in Wortwahl und Stil jener stark eingeschränkten Sprache bediente, die zu allen Zeiten die Herkunft von Amt und Behörde verrät, haftete dem Schreiben doch so etwas wie Scheu vor den ungewöhnlichen Umständen des Leichenfunds an. Zweimal wurde betont, dass es keine Spur zum oder vom Fundort des Toten gab. Und dass er Verletzungen aufgewiesen habe, wie man sie von Menschen kannte, die aus großer Höhe abstürzten - dass sich aus dem freien Feld aber nirgendwo ein Baum oder Turm erhob, der diese Annahme bestätigt hätte. Es schien, als wäre er ‚vom Himmel nieder gestürzt.’
Ein gefallener Engel? Nein. Die Identität des Toten ergab sich aus einem Empfehlungsschreiben an einen Wiener Kaufmann
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