Chiemsee Blues: Hattinger und die kalte Hand (German Edition)
Dunkeln liegende Ecke.
Seine Hand griff nach der schweren schwarzen Taschenlampe, die dort auf einem schmalen Mauersims deponiert war und knipste sie an. Mit der anderen Hand öffnete er den Deckel der alten, weißen Kühltruhe, deren Scharniere ein hässliches Knarren von sich gaben. Die müssten dringend mal wieder geölt werden. Dazu war aber jetzt keine Zeit.
Der Schein der Taschenlampe wanderte über die verschiedenen, sorgfältig beschrifteten Plastikbehälter und Tüten und blieb in einer Ecke ruhen, worauf die andere Hand nacheinander zwei der Päckchen entnahm und in einen alten roten Weidenkorb am Boden neben der Truhe legte. Dann fiel der Deckel der Truhe mit einem Geräusch, das an einen in die Rippen getretenen, aufheulenden Hund erinnerte, wieder zu.
Die Schritte entfernten sich wieder aus der Ecke, der Korb wurde quer durch den Raum getragen und hinauf über die Treppe. Schließlich rastete die Bodenluke wieder ein.
Im selben Moment erlosch das Licht.
Bis auf das gleichmäßige Surren der Kühltruhe herrschte wieder bleierne Stille.
5
Hinter Hattinger war schon eine kleine Schlange entstanden. Die Leute wurden langsam unruhig.
„Duat ma leid, aber Passagierlisten führ’ma koane.“ Die Fahrkartenverkäuferin der Chiemsee-Schifffahrt in Stock, dem Priener Hafen, sah Hattinger verständnislos an.
„Des denk i ma scho. I hab ja ah nur gfragt, ob Ihnen irgendwer aufgfalln is.“
„Mir ned. Da kommen jeden Tag so viel Leut ... Sie können höchstens noch as Schiffspersonal fragen, vielleicht wissen de was.“
„Von wo überall kommt ma denn überhaupt auf d’ Herrninsel?“
„Um die Jahreszeit von Prien, direkt, und von Gstadt aus über d’ Frauninsel. Im Sommer natürlich ah von Seebruck, von Chieming, von Bernau ...“
„Aber jetzt hamma ja ned Sommer, oder?“
„Da ham S’ recht. Und dann gibt’s natürlich no Sonderfahrten, Taxifahrten, die Fähre von Breitbrunn, die Bootsverleiher ham jetz scho alle offen, und von de privaten Segelboote san um de Zeit ah scho a ganze Menge im Wasser.“
Die Frau deutete durch das Fenster auf den See hinaus, der heute in strahlendem Sonnenschein lag. Die Lufttemperatur war seit gestern um fast 10 Grad gestiegen, und tatsächlich waren schon etliche Segelyachten, Ruder-, Tret- und Elektroboote unterwegs.
„Und jetz muaß i wieder kassiern.“
„Nur oans no – wie war denn gestern der Betrieb? War überhaupt was los?“
„Bis Mittag wenig, aber wia’s zum Regnen aufghört hat, hamma an regelrechten Ansturm ghabt. An am Feiertag, des is ja klar, de Leut ham ja nur drauf gwart ...“
„Und wir warten jetzt auch schon lange genug, uns fährt noch das Schiff vor der Nase weg, wenn Sie jetzt nicht endlich mal zu Potte kommen!“, beschwerte sich ein schwabbeliger, sonnenbebrillter Endfünfziger hinter Hattinger.
Der überlegte kurz, ob er dem Typen mal zeigen sollte, wo der Pott hängt, er ließ es dann aber doch bleiben. Einen kleinen Adrenalinstoß hätte er zwar schon vertragen können, aber dieser Kerl war die Zeitverschwendung nicht wert. Er bedankte sich stattdessen bei der Kassendame und ging zu den Schiffen hinüber.
Der wunderbare alte Schaufelraddampfer, mit Abstand das schönste Schiff der Flotte, war offensichtlich noch nicht in Betrieb genommen worden dieses Jahr, er war noch mit der Winterpersenning abgedeckt.
Als der kleine Alfons Hattinger die ersten Male mit seinen Eltern am Chiemsee gewesen war, hatte es mindestens noch einen anderen Schaufelraddampfer gegeben, wenn nicht sogar zwei, aber da war er sich nicht mehr ganz sicher. An seine erste Rundfahrt mit diesem Schiff damals konnte er sich aber ganz genau erinnern. Seine Eltern hatten ihm während der Fahrt immer wieder in den Ohren gelegen, er solle doch auch mal nach draußen schauen, weil der See und das Wetter und die Berge und die Inseln und überhaupt alles doch so schön seien heute, wie selten. Er hatte aber nur Augen gehabt für diese gigantische Dampfmaschine, die das Schiff antrieb.
Es gab da eine Galerie in der Mitte des Schiffes, so was wie ein großes Loch im Deck, rings herum gesichert durch eine Reling aus Stahl, Holz und poliertem Messing, wenn er sich recht erinnerte, und durch dieses Loch konnte man der Dampfmaschine bei der Arbeit zusehen, die meterlangen silbern glänzenden, schweren, stampfenden Pleuelstangen mit den gläsernen Ölbehältern, die die Lager schmierten, konnte beobachten, wie sie wuchtig hin und her schwangen und die massive
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