Chiemsee Blues: Hattinger und die kalte Hand (German Edition)
Immunität in puncto Strafzetteln zu vertrauen oder darauf, dass sowieso keiner Zeit haben würde, sie aufzuschreiben. Sogar das Fernsehen war inzwischen vertreten. Andrea Erhard meinte, dass sie sich an so ein Presseaufgebot in Prien während ihrer Zeit bei der Polizei nicht erinnern könne. Und vorher auch nicht.
Im Spiegelbild des Fensters sah Hattinger Karl Wildmann in den Raum kommen, mit einem inzwischen schon enorm angeschwollenen Stapel von Papieren unter dem Arm. Mit der freien Hand telefonierte er. Bei Wildmann als Einzigem glaubte Hattinger sich sicher zu sein, dass ihm der unfreiwillige Osterfeiertagsdienst nichts ausmachen würde. Er war Single, ob unfreiwillig oder nicht, wusste Hattinger zwar nicht so genau, aber dass Wildmann bei diesem alles andere als alltäglichen Fall ganz in seinem Element war, das konnte jeder sehen. Wenn man keinen hat, mit dem man Ostereier suchen kann, dann sucht man eben Verbrecher, dachte Hattinger. Dabei kam ihm Mia in den Sinn, er verdrängte den Gedanken aber schnell wieder.
Mit wem die Priener Polizisten, die eigens für diesen Fall abgestellt worden waren, Ostereier suchten, oder dieses Mal eben nicht, das wusste er nicht, er kannte nur den einen oder anderen vom Sehen. Und er wollte es auch nicht wirklich wissen.
Es waren noch zwei weitere Kriminaler aus Rosenheim zum Team gestoßen, Martin Haller und Petra Körbel, zwei jüngere Beamte, die als Rechercheteam erprobt waren und meistens die mühsame Arbeit übernahmen, den so genannten Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen. Das bedeutete meist nichts anderes, als zu versuchen, die Spreu vom Weizen zu trennen, wobei das Verhältnis Weizen zu Spreu vielleicht höchstens 1:1000 betrug. Es war eine ziemlich frustrierende Sisyphos-Arbeit, aber weil sie die akribisch erledigten, mit einem feinen Gespür für die eine interessante unter tausend mehr oder weniger abstrusen Meldungen, hatten neidische Kollegen sie in letzter Zeit immer öfter als das „Dreamteam Haller & Körbel“ bespöttelt. Sie hatten den ganzen Tag über Anwohner rund um den Priener Herrnberg befragt, bis jetzt ohne greifbares Ergebnis.
Andrea Erhard stellte gleich drei Kannen ihres pechschwarzen Kaffees auf den Tisch, sie hatte auch ein paar Gebäckteile besorgt und alle bedienten sich dankbar, allen voran Fred Bamberger. Der war ziemlich angefressen, weil er eigentlich über die Feiertage einen Ausflug mit der Familie an den Gardasee geplant hatte. Inzwischen waren sie ohne ihn gefahren. Seine Frau und die zwei schon fast erwachsenen Söhne, beide begeisterte Segler, die für ihren Verein immer öfter an internationalen Regatten teilnahmen, waren es schon seit Jahren gewohnt, im Zweifelsfall ohne den Papa loszuziehen. Bamberger versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber Hattinger kannte ihn jetzt schon so lang, dass er genau wusste, wie gern er bei der diesjährigen Osterregatta am Gardasee dabei gewesen wäre. Seine Söhne schienen inzwischen ernsthafte Siegchancen zu haben, und er konnte nicht da sein. Aber bald würde er ja in Pension gehen, dann konnte er fahren, wann und wohin er wollte.
Als alle da waren, sich auf ihren Stühlen und hinter den Schreibtischen eingerichtet hatten, fasste Hattinger die bisherigen Ereignisse auf seine Art zusammen.
„Oans muaß ma feststelln: Mir tappen praktisch total im Dunkeln. Mir ham koane vernünftigen Spuren, koane Hinweise, koane Vermissten, koa Motiv, mir ham no ned amoi a ordentliche Leich ... Alles was ma ham, san zwoa gfrorene Frauenhänd und an Fuaß. Und irgendwo muss jemand rumlaufen, der die bei uns in der Gegend verteilt, praktisch öffentlich auslegt, und zwar so, dass s’ auf jeden Fall früher oder später gfundn wern. Mir wissen no net amoi, ob sich’s überhaupt um an Mord handelt, es wär genauso möglich, dass irgend a Geistesgstörter a Tote verstümmelt hat, die an ganz was anderm gstorbn is. Des halt i zwar ned für wahrscheinlich, aber möglich wär’s.“
Er schaute in die Runde, nicht wirklich erwartungsvoll: „Hat jemand a Idee?“
Wildmann hatte sich bis jetzt zurückgehalten. Dafür hatte er sich reichlich Notizen gemacht, ständig etwas in sein Ringbuch gekritzelt. Hattinger fragte sich, was er da eigentlich aufschrieb.
„Ich habe mal versucht, ein vorläufiges Bewegungsprotokoll des Täters zu erstellen. Ich nenne ihn jetzt einmal Täter, weil ich es doch für sehr wahrscheinlich halte, dass es sich um einen Mord handelt, und dass wir von einer einzelnen
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