Chiffren im Schnee
und methodisch aufzählte, was gewünscht wurde. Der Gentleman bat um einen Lesesessel, der nicht zu tief und zu weich sein sollte. Die Samt-Fauteuils des Splendid würden sich nicht eignen, aber Anna wusste, wo sie vielleicht noch einen steifen alten Ledersessel finden konnte, und machte sich gleich auf den Weg zum alten Hotel Bircher, das jenseits des weitläufigen Parks hinter hohen Bäumen verborgen lag. Das Haus war nicht mehr zeitgemäss und zu klein für den ständig anschwellenden Strom der Gäste. Es diente als Ökonomiegebäude und zur Hochsaison, wenn die Räume im Splendid knapp wurden, als Dépendance.
Anna ging nicht durch den Park, wo zwischen schmucken Rabatten und akkurat gestutztem Rasen weiss gekieste Pfade zum Spazieren einluden. Sie nahm eine hinter Hecken verborgene Abkürzung für das Personal und machte sich auf dem Weg so ihre Gedanken.
Im Winter wurde die Parkanlage in ein grosses Eisfeld verwandelt, wo sich die Gäste in eleganten Pirouetten versuchten. Lebhafter ging es auf den Curlingbahnen zu und her, die auf den Tennisfeldern am anderen Ende des Parks angelegt wurden. Am lautesten war es aber während der Eishockey-Matches, wenn sich die Teams in ihren weissen Sport-Jerseys gegenüberstanden; blutige Nasen und brummende Schädel waren keine Seltenheit.
Die Engländer hatten all das wilde Treiben in die Berge gebracht. Ohne die leicht verschrobenen Söhne und Töchter des Empire gäbe es weder ein Grand Hotel Palace noch ein Grand Hotel Splendid. Vielleicht lag genau hier die Erklärung für die ungewöhnliche Entscheidung des Patrons verborgen.
Als die jungen Gentlemen vor gut hundert Jahren auf einmal die Alpen zur Station auf ihrer Grand Tour durch den Kontinent machten, begann sich das einsame und harte Leben in den Hochtälern zu verändern. Die seltsamen Fremden besangen die Schönheit der unbeugsamen Natur in Gedichten und verherrlichten Berge und Menschen, die hier lebten, in Skizzen und Gemälden. Die künstlerisch weniger begabten Besucher entdeckten die Gipfel als Inspiration für allerlei gefährliche Abenteuer.
Die praktisch veranlagten Bergler staunten zuerst, fassten sich aber bald wieder und begriffen, dass es das Schicksal endlich auch einmal mit ihnen gut meinte.
Herr Birchers Grossvater hatte einen Kredit aufgenommen und das erste richtige Hotel im Dorf gebaut. Schon nach ein paar Jahren war es zu klein geworden, denn immer mehr mit Skizzenblock und Malkasten oder Eispickel und Hanfseilen bewehrte Gäste tauchten während der Sommermonate in dem kleinen Bergdorf auf. Und die bessere Gesellschaft des Kontinents folgte dem englischen Beispiel. In Sternenbach florierte das Geschäft; es wurden weitere Hotels gebaut, während das Bircher um zwei Seitenflügel erweitert wurde. Grossvater Bircher starb als wohlhabender Mann, und sein Sohn Franz, der Vater des jetzigen Patrons, übernahm das Haus.
Dann erschienen die englischen Gäste auf einmal auch in der kalten Jahreszeit und brachten ihr liebstes Wintervergnügen mit: das Eislaufen. Mit dem Anlegen von Eis- und Curlingbahnen war es allerdings nicht getan. Die Herrschaften suchten nach immer neuen Attraktionen in Schnee und Eis, deren Hauptzweck in den Augen der Einheimischen darin bestand, sich auf möglichst spektakuläre Art und Weise den Hals zu brechen. Man rüstete die bisher zum Heu- und Holztransport genutzten Schlitten um, und es entstanden allerlei phantastische Gefährte aus Stahl und Holz, ausgestattet mit Lenkseilen oder gar Steuerrädern. Und damit die Fahrt auch wirklich halsbrecherisch schnell wurde, baute man für diese Bobschlitten eisige Rennbahnen. Schliesslich wurden aus Skandinavien «norwegische Schneeschuhe» oder Ski eingeführt. Mit diesen an die Füsse geschnallten Holzbrettern quälte man sich zuerst einen Berghang hoch, um danach – je nach Können – elegant zu Tale zu schwingen oder plumpsend und kopfüber, der Schwerkraft vertrauend, irgendwann hoffentlich heil unten anzukommen.
Mit der Ankunft der Wintersaison änderte sich vieles; saubere Betten und warme Mahlzeiten wie zu Grossvater Birchers Zeiten reichten schon lange nicht mehr. Hotels mussten nun Sommer wie Winter über funktionieren, und die Gäste erwarteten inmitten der wilden Bergwelt alle Annehmlichkeiten des neuen Zeitalters. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf hatten Vater und Sohn Bircher kurz nach der Jahrhundertwende das Splendid erbaut. Es präsentierte sich im neuen Stil aus Wien und Paris, hatte eine eigene
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