Chiffren im Schnee
Stromversorgung, einen Lift, eine Telefonzentrale, eine riesige Heizanlage und eine hohe Zahl von Badezimmern, um dem «englischen Standard» zu genügen. Die Innenausstattung war ganz in Gold, Kupfer, Crème und Grün gehalten. Der Küchenchef des Hauses hätte sich auch in Paris behaupten können, und in mehreren Salons und einer gut bestückten Bar konnten sich die Gäste dem eleganten Gesellschaftsleben hingeben.
Der Wohlstand, der einen solchen Bau erst ermöglicht hatte, war zu einem grossen Teil den Engländern zu verdanken. Auch wenn sich inzwischen Gäste aus aller Herren Länder im Schnee tummelten, die Engländer nahmen in den Herzen vieler Einheimischer immer noch einen besonderen Platz ein. Konnte es sein, dass Herr Bircher – im Bewusstsein, dass der Reichtum seiner Dynastie dem Inselvolk geschuldet war – aus sentimentalen Gründen alle Bedenken über mögliche Probleme und Schwierigkeiten mit diesem Gast ausser acht liess? Das passte so gar nicht zum gesunden Geschäftssinn, den die Birchers sonst an den Tag legten.
Etwas ratlos erreichte Anna die Dépendance und machte sich auf die Suche nach einem altmodischen Sessel mit hoher, steifer Rückenlehne. In einer Abstellkammer wurde sie schliesslich fündig. Sie merkte das Stück für die Suite vor und kümmerte sich dann um die weiteren Punkte auf der Liste.
Beim Abendessen teilte Anna Herrn Ganz ihre Überlegungen zur Aufnahme des Lieutenants im Haus mit.
Der Concierge meinte: «Es hat vielleicht eher etwas mit der geheimnisvollen Erkrankung des jungen Herrn Dominik vor zwei Jahren in London zu tun; ich habe den Namen dieses Doktor Fuller wiedererkannt. Sie wissen schon, als Herr Bircher Hals über Kopf nach England reiste, und das Nächste, was wir hörten, war, dass der junge Herr nun auf einem Schiff nach Buenos Aires weilt. Sie mögen damit richtigliegen, dass der Patron aus einem Gefühl der Verpflichtung handelt, aber ich denke, diese ist weitaus persönlicherer Natur als Dankbarkeit gegenüber einer ganzen Nation. Das scheint mir in Anbetracht der Reputation des jungen Herrn die wahrscheinlichste Erklärung.»
Anna wollte sich zu diesem Thema lieber nicht äussern. Ihrer Meinung nach konnte Bircher jun. gar nicht weit genug weg sein. Und wenn dieser Lieutenant Wyndham der Preis dafür war, so hatte sie damit keine Probleme. Sie wechselte das Thema und erzählte Herrn Ganz von den Änderungen, die sie in der Kleinen Suite vornehmen wollte.
An diesem Abend verbrachte Herr Bircher viel Zeit damit, über seine Familiengeschichte nachzudenken. Düstere Sprichwörter, welche voraussagten, dass von mehreren Generationen angehäufte und bewahrte Vermögen gerne von der jüngsten Generation zum Fenster hinausgeworfen wurden, wollten ihm nicht aus dem Sinn.
Er selbst hatte, wie das üblich war, sein Handwerk in den grossen Hotels im Ausland gelernt; er war in Paris, London und Kairo in die Lehre gegangen. In den dortigen Grand Hotels hatte er sich das nötige Handwerkszeug angeeignet, um auch in den Alpen Gästen aus aller Welt jenen Hauch exklusiver Eleganz zu gewähren, den sie erwarteten.
Und nun wäre es an Dominik gewesen, seine Lehrjahre erfolgreich hinter sich zu bringen. Doch irgendwie hatte es der jüngste Sprössling der Bircher-Dynastie geschafft, sich von einer unmöglichen Situation übergangslos in die nächste zu manövrieren. Der krönende Abschluss dieser Serie von Kalamitäten hatte sich in einem erstklassigen Londoner Haus zugetragen. Es hatte einiges an Mühe gekostet, Dominik dort überhaupt unterzubringen – sein Ruf eilte dem jungen Bircher voraus. Aber da sein Vater mit dem Direktor jenes Hauses befreundet war, ignorierte dieser freundlicherweise die Warnungen, die ihm aus allen Ecken des Kontinents zukamen, und stellte den jungen Bircher ein.
Es folgte ein Reigen unglaublicher Fauxpas, wie ihn nur Dominik heraufbeschwören konnte. Die Eskapaden endeten schliesslich in einem Zimmer eben jenes Hauses mit einer Dame, die sich als Geliebte eines Angehörigen des französischen diplomatischen Korps entpuppte. Bedauerlicherweise zeigte Monsieur nur wenig diplomatische Contenance, als er Mademoiselle nicht alleine in der von ihm bezahlten Unterkunft vorfand. Es kam zu einer unschönen Szene, die für den Junior mit einer Kugel im Bein endete. Der Hoteldirektor rief Doktor Fuller herbei, und wie in einem derart erstklassigen Haus nicht anders zu erwarten, gelang es, einen Skandal zu verhindern.
Nach Erhalt eines
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