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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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diplomatischen, aber dennoch präzisen Telegramms war Herr Bircher sofort nach London gereist. Es war eine demütigende Erfahrung, nicht der Garant, sondern der Empfänger von Diskretion und Stillschweigen eines ganzen Hotels zu sein. Herr Bircher hatte einen weiteren Freundschaftsdienst erbitten müssen, und Dominik wurde daraufhin, wie in solchen Fällen üblich, so schnell wie möglich nach Südamerika verfrachtet, wo er in einem Aussenposten der Handelsgesellschaft eines guten Bekannten hoffentlich endlich zur Vernunft kommen würde.
    Doch in der Zwischenzeit fielen die Sünden der Söhne für einmal auf die Väter zurück. Doktor Fullers Brief war keineswegs nur ein Empfehlungsschreiben für den Lieutenant gewesen, sondern die diskrete Einforderung einer Ehrenschuld auch im Namen des befreundeten Hoteliers. Warum die beiden Gentlemen sich so für den Lieutenant einsetzten, wusste Herr Bircher nicht, doch das spielte auch keine Rolle. Er hatte der als Bitte ausgesprochenen Forderung nachzukommen, auch wenn er eigentlich gegenüber dem Aufenthalt des Lieutenants die gleichen Bedenken wie seine leitenden Angestellten hegte.
    Um seinen Gefühlen etwas Erleichterung zu verschaffen, schrieb er schliesslich einen reichlich ungnädigen Brief nach Buenos Aires, dem genauso wenig Beachtung geschenkt werden würde wie seinen vielen Vorgängern.
    Das Ende der Sommersaison war nur noch wenige Tage entfernt. Bald würde das Splendid für gut zwei Monate in einem trügerischen Dornröschenschlaf versinken. Doch zuerst musste das ganze Haus ordentlich gelüftet und geputzt werden, die Gärtner holten alle Pflanzen aus dem Hotel, die Teppiche wurden tüchtig ausgeklopft, das Parkett wurde blank gebohnert, und zu guter Letzt verschwand das Mobiliar unter einer Schicht von Überwürfen und Hussen.
    In der ersten Woche nach der Schliessung kamen die Handwerker, um die Kleine Suite wieder herzurichten. Anna erteilte die nötigen Anweisungen, viel mehr konnte sie im Moment nicht tun. Sie würde die Suite erst zu Beginn der Wintersaison endgültig einrichten können.
    Für Jost begann nun seine Lehrzeit, er wurde angewiesen, die nächsten Wochen Obergärtner Brehm, der die Parkanlage, Gärten und Treibhäuser in der Zwischensaison nicht im Stich liess, zur Hand zu gehen. Er sollte für diese Zeit auch beim Gärtner wohnen, der neben der Dépendance über ein eigenes kleines Reich von Schuppen und Gewächshäusern herrschte und dort eine kleine Wohnung hatte. Schon bald stapelten sich in Herrn Brehms Stube Titel über Benehmen, Anstand und Manieren, englische Konversation und Handbücher für Kammerdiener. Herr Ganz hatte die Bücher aus seiner Unterkunft in der Dépendance herangeschleppt, bevor er nach München abreiste, um dort seine Schwester zu besuchen. Nun sollte der Gärtner über Josts Ausbildung wachen – ein Arrangement, das höchstens jenen, die Herrn Brehm nicht näher kannten, seltsam vorkommen mochte. Der Gärtner, der stets mit Krawatte und Weste arbeitete, war mehr feiner Herr als manche der Gäste, die des Nachts betrunken seine sorgfältig gepflegten Rabatten ruinierten.
    Bis auf Anna empfanden wohl alle mit Jost Mitleid. Doch sie konnte nichts Schlimmes darin sehen, wenn einem erlaubt wurde, sich Wissen anzueignen – ganz im Gegenteil. Vom ersten Tag an, als sie als schmächtiges Mädchen im Hotel Balances Wasser in die Zimmer hatte schleppen müssen, war das Hotel für sie Bibliothek und Akademie gewesen. Was ihr an Büchern und Zeitschriften in die Finger kam, las sie – oft in heimlich von der Arbeit abgezwackten Momenten. Zum nicht geringen Vergnügen der anderen Mädchen verbrachte sie ihre Zimmerstunden gerne in der dämmrigen Rumpelkammer, wo sich alte Zeitungen und von Gästen vergessene Bücher stapelten. Anna lauschte immer aufmerksam, wenn die fremden Gäste sich unterhielten, und versuchte danach, den Sinn der geheimnisvollen Worte in alten Sprachlehrbüchern auszumachen, die sie in der Personal-Stube gefunden hatte. Die Bücher waren eigentlich für die Kellner und Portiers bestimmt gewesen, doch die kümmerten sich nicht darum. Vor der Gouvernante musste Anna ihr Tun verbergen, denn die Dame hielt nichts davon, dass Zimmermädchen ihre Zeit mit Lesen vergeudeten. Im Jahr darauf fand Anna in einem anderen Hotel Arbeit, wo die Gattin des Patrons über die weiblichen Angestellten wachte. Frau Zumstein bemerkte Annas Lerneifer schon bald und bemühte sich sogleich, diesen in die richtigen Bahnen zu

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