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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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lenken: Anna durfte Bücher zu Fragen der Etikette, der Haushaltsführung oder der Krankenpflege lesen – jedoch keine Romane oder Gedichtbände, denn die würden ihr junges Gemüt nur verderben. Dennoch fand auch solch Lektüre ihren Weg in Annas Hände. Gutmütige Gäste, denen Frau Zumstein stolz von ihrem Schützling berichtete, übergaben Anna manchmal bei Ende ihres Aufenthaltes statt eines Trinkgelds ihre Ferienlektüre.
    Doch es hatte während dieser Lehrjahre nicht nur freundliche Geister gegeben, die ihr mit kleinen und grossen Gesten halfen, oft war Anna auch sehr deutlich zu verstehen gegeben worden, dass sie wohl ihren Platz nicht kennen würde. Sie hatte sich nicht beirren lassen. Als der verbissene Buchhändler im Dorf sich weigerte, ihr Titel zu bestellen, die «für eine junge Frauenperson höchst unpassend» waren, suchte Anna sich eine Anstellung in der Stadt, wo Buchhändler sich solchen Unsinn nicht leisten konnten und wo es Bibliotheken gab. Sie arbeitete in Basel und Zürich und stand einen eisigen, von der Bise durchtosten Winter in Genf durch. Dort hatte sich ihr die Möglichkeit geboten, eine Stelle in England anzunehmen. Sie verbrachte zwei Jahre in London und kehrte danach in die Schweiz zurück, wo sie dank exzellenter Empfehlungen umgehend im Splendid in Sternenbach eingestellt wurde.
    Die Lehr- und Wanderjahre hatten Anna viel gelehrt. Sie wusste, dass es nicht gut war, zu enge Freundschaften zu schliessen. Für die meisten Frauen war der Hoteldienst nur ein Übergang. Sie suchten und fanden Ehemänner und verschwanden dann in einem anderen Leben. Einem Leben, das selten so gut war, wie sie es sich vorgestellt hatten – auch das wusste Anna. Und sie hatte erlebt, wie jene, die den Weg in die Ehe nicht fanden, behandelt wurden. «Alte Mädchen» nannte man sie, lächelte hinter ihrem Rücken und liess sie bei armseligem Lohn schuften, bis der gekrümmte Rücken und die schlechten Augen sie ins Armenhaus brachten, weil niemand sich um sie kümmern mochte.
    Das Lernen, wo und wann auch immer, hatte Anna stets eine vage Hoffnung gegeben, dass mehr möglich sein konnte. Manchmal, wenn sie sah, mit welcher Gleichgültigkeit andere Menschen Gelegenheiten, zu lernen und etwas aus sich zu machen, verstreichen liessen oder gar mit voller Absicht ignorierten, konnte sie deshalb ziemlich ungnädig werden.
    Was sich Jost nun bot, war eine solche Gelegenheit; eine Chance, die vielleicht nur einmal im Leben kam. Wenn er es richtig anstellte, dann nahm ihn der Lieutenant vielleicht sogar fest in seine Dienste. Anna konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann gedachte, in Zürich sesshaft zu werden. Wenn er einen Diener hatte, auf den er sich verlassen konnte, dann kehrte er vielleicht nach England zurück, oder aber er besuchte jene fernen Orte, an denen er Dienst geleistet hatte; vermögend genug war er ja anscheinend. Eine solche Stellung konnte für Jost das Tor zur Welt bedeuten, und Anna machte sich Sorgen, dass er das nicht begriff. Genau wie Herr Ganz war auch sie die nächsten Wochen nicht im Splendid, aber sie nahm sich vor, noch ein ernsthaftes Gespräch mit Jost zu führen, bevor der Lieutenant eintraf. Jost musste von Anfang an begreifen, dass für ihn mehr auf dem Spiel stand als nur ein hübsches Trinkgeld.
    Natürlich hing auch vieles von dem Gentleman ab. Die noblen Herrschaften, die ihre Zeit in Grand Hotels verbrachten, waren nicht immer ganz so nobel, wie sie sich nach aussen gerne gaben. Die Baronin von Helmdorf war ein gutes Beispiel, doch war sie verglichen mit anderen Exemplaren noch einigermassen harmlos. Es konnte schlimmer kommen, wie Anna aus leidvoller Erfahrung wusste.
    Es gab allerdings keinen Grund zur Annahme, dass in der Kleinen Suite schon wieder ein unangenehmer Gast einziehen würde. Immerhin hatten vor der Baronin Herr und Frau Professor Hatvany dort logiert, und das waren ausgesprochen liebe Gäste, die das Haus jedes Jahr beehrten und deren Ankunft das Personal stets freudig entgegensah.
    Manchmal dachte Anna auch an die Geschehnisse vom 1. August und fragte sich, ob die Wahrheit je ans Licht kommen würde oder ob die zerstörte Suite in den Fundus seltsamer Geschichten eingehen sollte, die zum Hotelgewerbe gehörten und sozusagen den Sagen- und Legendenschatz ihres Berufsstandes bildeten.
    ***
    Lieutenant Richard Hastings sah sich unbehaglich um, doch es gab kein Entkommen – Lady Georgiana hatte einen günstigen Moment abgewartet, um ihn zu einer

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