Chill mal, Frau Freitag
Gefühl, zu seiner persönlichen Selbstbewusstseins-Kastration zu gehen. Gut vorbereitet, etwas übermüdet, aber hoffnungsvoll geht man rein. Und völlig zerstört wird man wieder ausgespuckt: »Dies war nicht richtig, jenes war falsch, hier was vergessen, wieder falsche Medien gewählt, keine klaren Arbeitsanweisungen, schon wieder nicht, keine Alternativen, hier hätten Sie so machen, da lieber nicht so machen sollen, in der zweiten Phase standen Sie zu weit links, in der Reflexion haben Sie falsch geatmet und vor allem: SIE HABEN DAS LERNZIEL NICHT ERREICHT!«
Die Todsünde! Die Schüler werden sterben! Lernziel nicht erreicht: Richtet diesen Nichtskönner-Referendar hin! Stellt ihn ins Lehrerzimmer an den Lehrerzimmerpranger – hängt ihn ans Schwarze Brett, mit einem Schild um den Hals: LERNZIEL NICHT ERREICHT! Aber halt, es geht noch schlimmer: Lernziel erreicht, aber Lernziel zu leicht. Die UNTERFORDERUNG der Schüler ist der direkte Weg in die Hölle. Vierteilt den, der sich das erlaubt. Und zwar hier und jetzt!.
Ihr lieben armen Referendare, das eine kann ich euch versichern: Später ist das einzige Ziel einer Stunde, sie rumzubringen. Und am Anfang reicht schon: Keiner gestorben – Ziel erreicht.
Wenn man dann irgendwann anfängt, ein richtiger Lehrer zu werden, fängt man ganz unten an. Man denkt, nun habe ich die harte Zeit des Referendariats hinter mich gebracht, jetzt wird alles besser. Aber nichts da!
Die erste Position, die man als neuer Lehrer an jeder Schule einnimmt, ist die des Opferlehrers.
Opferlehrer sind Opfer, in jeder Klasse und in jedem Unterricht. Das wird erst mal auch nicht besser, sondern eher schlimmer. Man denkt, man unterrichtet, aber eigentlich wird man geopfert. Das Schlimme ist, dass man sich niemandem anvertrauen kann, denn man will ja an der neuen Schule nicht gleich als Loser dastehen. Man will ja vermitteln, dass man alles im Griff hat, schließlich hat man bei der Einstellung noch großspurig gesagt, dass »Chemie fachfremd« und »Ethik, 8. Klasse« gar kein Problem seien. Und dann steht man da und leidet. Immerhin kommt einem da der überproportional ausgeprägte Hang zum Masochismus zugute, den jeder Lehrer in sich trägt.
Im Lehrerzimmer tuschelt man hinter deinem Rücken, als du erzählst, dass du gleich in der 8b Unterricht hast. In der Klasse stellst du dich vor, keiner hört zu, oder, auch gut möglich, alle wiederholen, was du sagst – die ganze Stunde lang, jedes einzelne Wort. Du drehst dich an die Tafel – ungünstig, weil du hinten noch keine Augen hast –, wirst beworfen. Drehst dich zur Klasse, keiner war’s. Zurück zur Tafel, wieder wirst du beworfen. Dieses Spiel spielst du fünfundvierzig Minuten, gehst dann mit hochrotem Kopf ins Lehrerzimmer und sagst: »Ja, war okay.«
Das geht jede Stunde so, nur die Wurfgeschosse ändern sich. Abends weinst du. Meine Freundin Frau Dienstag wurde mit Plastikflaschen beworfen. Ich nur mit Papierkugeln, Bleistiften und diesen Teilen zur Wasserspeicherung in den Blumentöpfen. In der Schule erzählst du niemandem davon. Zu Hause will es nach einigen Wochen auch niemand mehr hören. Du verlierst Gewicht.
Es sollte klar sein, dass du den Schülern in deinen Stunden überhaupt nichts beibringst. Opferlehrer tun zwar in jeder Stunde so, als unterrichteten sie, aber in diesen Stunden unterrichten nur die Schüler. So lange, bis du es gelernt hast: Du bist der Opferlehrer! Nach dem Bewerfen kommt die Phase des miesen Fertigmachens. Hast du einen ungünstigen Nachnamen, wirst du damit verarscht. Erfahren die Schüler deinen Vornamen, vergessen sie deinen Nachnamen. Hast du körperliche Eigenarten, unverwechselbare Kennzeichen oder siehst irgendwie anders als normal aus – zu dünn, zu dick, zu klein, zu groß, dann ziehen dich die Schüler damit auf. Bist du normal, dann denken sie sich Gemeinheiten aus: »Sie haben Ratten in der Unterhose«, »Ihre Haare sehen aus wie bei einem Eisbären unten rum« oder »Sind Ihre Klamotten vom Müll?«.
Wochen vergehen. Und plötzlich stellst du fest, dass die Schüler doch etwas gelernt haben. Nämlich, dass sie bei dir machen können, was sie wollen. Im ersten Berufsjahr von Frau Dienstag hat Michael mit dem Kartenständer die Decke durchbohrt, die Heizungsrohre aus der Wand gerissen und den Wasserhahn abgetreten. Bei mir hat ein Schüler mit der Faust die Fensterscheibe kaputtgeschlagen. Bei Frau Dienstag haben Siebtklässler im Unterricht geraucht.
Und was kann man
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