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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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KAPITEL 1
    Der Schrei war in der Orgel eingesperrt.
    Er sirrte in den Orgelpfeifen und hallte in der ganzen Kirche wider. Gedämpft. Dumpf. Entrückt. Lionel Kasdan machte drei Schritte und verharrte in der Nähe der brennenden Kerzen. Er betrachtete den menschenleeren Chor, die Marmorsäulen, die mit dunkel himbeerrotem Kunstleder bezogenen Stühle.
    »Oben, bei der Orgel«, hatte Sarkis gesagt. Kasdan drehte sich um und schlich über die steinerne Rundtreppe hinauf zur Empore. Die Orgel in der Kirche Saint-Jean-Baptiste hat eine Besonderheit: Ihr Pfeifenwerk ragt wie eine Batterie Raketenwerfer in der Mitte auf, während sich das davon getrennte Manuale rechts befindet. Kasdan ging über den roten Teppich an dem Geländer aus blauem Stein entlang.
    Der Körper lag eingeklemmt zwischen den Pfeifen und der Notenablage über dem Manuale.
    Auf dem Bauch, das rechte Bein angewinkelt, die Hände verkrampft, als würde er kriechen. Eine kleine schwarze Lache um den Kopf. Partituren und Gebetsbücher waren um den Leichnam herum verstreut. Unwillkürlich sah Kasdan auf seine Uhr: 16.22 Uhr.
    Für einen Moment beneidete er diesen Toten um seine Ruhe. Er hatte immer geglaubt, dass er mit dem Alter eine Angst, eine unerträgliche Furcht vor dem Nichts empfinden würde. Aber das Gegenteil war geschehen. Im Lauf der Jahre hatte sich in ihm eine ungeduldige Neugier auf den Tod entwickelt, eine Art magnetische Angezogenheit.
    Endlich Frieden.
    Das Schweigen seiner inneren Dämonen.
    Abgesehen von dem Blutfleck gab es keinerlei Anzeichen für Gewaltanwendung. Der Mann hätte einen Herzinfarkt erlitten und sich im Sturz verletzt haben können. Kasdan setzte ein Knie auf den Boden. Das Gesicht des Toten war unsichtbar, verborgen in seinem angewinkelten Arm. Nein, es war Mord . Er witterte es.
    Der Ellbogen des Opfers war auf ein Register der Orgel gestützt. Kasdan kannte sich in der Orgelmechanik nicht aus, aber er vermutete, dass die betätigte Pedaltaste die Pfeifen aus Zinn und Blei geöffnet und die Resonanz des Schreies verstärkt hatte. Wie war der Mann umgebracht worden? Warum hatte er geschrien?
    Kasdan stand auf und griff nach seinem Telefon. Aus dem Gedächtnis wählte er mehrere Nummern. Bei jedem Anruf erkannte man seine Stimme. Jedes Mal erhielt er die Antwort: »Okay.« Hitze in seinen Adern. Er war also nicht tot. Nicht ganz.
    Er dachte an den Film Geheimagent von Alfred Hitchcock, einer dieser Schwarz-Weiß-Filme, die er sich nachmittags zum Zeitvertreib in den Kinos des Quartier latin ansah. Zwei Spione entdeckten einen Leichnam, der in einer kleinen schweizerischen Kirche vor dem Manuale einer Orgel saß, die Finger erstarrt in einem diskordanten Akkord.
    Er ging zur Balustrade und betrachtete den Saal zu seinen Füßen. An der Rückwand der Apsis das Tuch Christi, eingerahmt vom Engel des heiligen Matthäus und dem Adler des heiligen Johannes. Kronleuchter mit Kristalltropfen. Der goldene Altarvorhang. Purpurne Teppiche. Es war genau die gleiche Szene wie in dem Hitchcock-Film, allerdings in einer armenischen Spielart.
    »Was machen Sie da?«
    Kasdan drehte sich um. Ein Unbekannter mit flacher Stirn und mächtigen Augenbrauen stand auf der Schwelle der Treppe. Im Halbdunkel glich er einer mit schwarzem Filzstift gezeichneten Karikatur. Er schien zornig.
    Statt zu antworten, machte Kasdan ein eindeutiges Zeichen: »Pst!« Er wollte weiterhin das Pfeifen hören, das kaum noch wahrnehmbar war. Als der Ton erloschen war, ging er auf den Neuankömmling zu:
    »Lionel Kasdan, Kommissar bei der Mordkommission.«
    Der Mann wirkte überrascht:
    »Noch immer im Dienst?«
    Die Frage sagte alles. Kasdan machte sich keine Illusionen mehr. Mit seiner sandfarbenen Drillichjacke, seinen kurz geschnittenen grauen Haaren, seinem um den Hals gewickelten Turbanschal und seinen dreiundsechzig Jahren auf dem Buckel glich er mehr einem Söldner, der auf einem Saumpfad im Tschad oder im Jemen vergessen worden war, als einem aktiven Polizisten.
    Der andere war das genaue Gegenteil: jung, kräftig, selbstsicher. Ein Muskelpaket in einer schimmernd grünen Bomberjacke, der seine Glock im Gürtel seiner Baggy-Jeans trug. Nur in ihrer Statur glichen sie einander. Zwei über 1,85 Meter große Kraftprotze, die beide um die hundert Kilogramm wogen.
    »Bleiben Sie stehen«, sagte Kasdan, »sonst verwischen Sie die Spuren!«
    »Hauptmann Éric Vernoux«, erwiderte der Polizist, »Erste Kriminalpolizeidirektion. Wer hat Sie angerufen?«
    Trotz

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