Choral des Todes
seine Liste. Der Erste, Brian Zarossian, war am redseligsten gewesen. Ein Junge von neun Jahren. Nach seiner Befragung hatte Kasdan auf seinen Zettel geschrieben: nein . Der zweite, Kevin Davtian, elf Jahre, war widerspenstiger gewesen. Kräftige Statur, breite Stirn, kurz geschorenes schwarzes Haar. Auf die Fragen Kasdans hatte er nur mit einzelnen Lauten geantwortet. Aber keine Anzeichen von Nervosität. Nein.
Es klopfte. Der vierte Junge trat ein. Ein spilleriger Typ mit zerzaustem Haar. Ein enger schwarzer Parka, ein weißes Hemd, dessen Kragen zwei blasse Fittiche auf seine Schultern zeichnete. Er glich dem Anführer einer Rockband.
David Simonian, zwölf Jahre, wohnhaft in der Rue d’Assas 27, 6. Arrondissement. In der zweiten Klasse im Montaigne-Gymnasium. Alt. Schuhgröße 37.
»Du bist der Sohn des Gynäkologen Pierre Simonian?«
»Ja.«
Kasdan kannte den Vater des Jungen, der seine Praxis am Boulevard Raspail im 14. Arrondissement hatte. Nach der Befragung schwieg er und beobachtete den Jungen aus den Augenwinkeln. Noch einmal versuchte er, eine verborgene Regung von Angst aufzuspüren. Nichts. Er probierte es anders:
»War Monsieur Götz sympathisch?«
»Es geht.«
»Streng?«
»Na ja. Er war …« Der Junge schien nachzudenken. »Er war so wie seine Partituren.«
»Das heißt?«
»Er redete wie ein Roboter. Sachen wie ›halte deinen Ton‹, ›deine Luftströmung‹, ›sing klar und deutlich‹, immer dasselbe. Er gab uns sogar Punkte.«
»Punkte?«
»Punkte für Gesang, Ausdruck, Körperhaltung … Nach jedem Konzert gab er uns Zensuren. Aber damit konnte er uns mal.«
Kasdan stellte sich vor, wie Götz den Knabenchor dirigierte, besessen von Details, die nur ihn interessierten. Was konnte jemanden dazu veranlassen, einen so harmlosen, verschrobenen Mann umzubringen?
»Hat er außerhalb des Gesangsunterrichts mit euch gesprochen?«
»Nein.«
»Hat er nie sein Heimatland Chile erwähnt?«
»Nein.«
»Weißt du, wo Chile liegt?«
»Nicht genau, nein. In Geographie nehmen wir gerade Europa durch.«
»Hast du vorhin im Hof gespielt?«
»Ja. Wie jeden Mittwoch nach dem Religionsunterricht.«
»Ist dir nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Zum Beispiel?«
»Wirkte einer deiner Kameraden vielleicht verängstigt? Hat einer geweint?«
Der Junge warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Okay, sag dem Nächsten, er soll reinkommen.«
Kasdan starrte auf das Kreuz an der Mauer über dem Kühlschrank. Sein Blick wanderte zu dem Spülbecken aus rostfreiem Metall und dem Wasserhahn – er hatte einen trockenen Mund, wollte aber nichts trinken. Sich nicht entspannen, nicht nachlässig werden. Er sagte sich noch einmal, dass einer der Jungs den Mörder gesehen hatte. Verflixt. Ein Augenzeuge, das ist schon mal was …
Die Tür ging auf. Der fünfte Junge trat herein. Klein, aber schon ein Dandy. Gründlich zerzaustes schwarzes Haar, das bis in die Augen fiel. Sehr helle, fast milchige Augen. Er trug einen militärischen Drillichanzug und einen Rucksack, der mit Steinen gefüllt schien. Mit eingezogenen Schultern und mürrischer Miene spielte er an einem flachen Kasten. Ein Videospiel. Kasdan musterte den Gegenstand und verspürte einen jähen Schwindel. Handy, Internet, MSN … eine Multimedia-Generation, übersättigt mit Bildern, Tönen und unverständlichen Hieroglyphen.
Er stellte seine Fragen. Harout Zacharian, zehn Jahre. Rue Ordener 72, 18. Arrondissement. In der fünften Klasse der Grundschule in der Rue Cavé. Sopran. Schuhgröße 36. Der Junge spielte unbeeindruckt weiter. Keine Spur von Nervosität. Kasdan versuchte es mit einigen indirekten Fragen, auf die er jedoch nur nichtssagende Antworten erhielt. Der Nächste.
Ella Kareyan, elf Jahre. Rue La Bruyère, 34. In der Sexta des Condorcet-Gymnasiums. Bass. Schuhgröße 36. Besondere Merkmale: Geiger und Judoka. Redete wie ein Wasserfall. Jeden Mittwoch nach dem Gesangsunterricht betrieb er Kampfsport. Heute hatte er wegen »dieser Sache« den Kurs verpasst. So würde er es nie zum orangefarbenen Gürtel bringen. Der Nächste.
Timothée Avedikian, dreizehn Jahre. Ein kurzer Blick auf seine Schuhe genügte Kasdan, um zu begreifen, dass das nicht sein Zeuge sein konnte. Er war hoch aufgeschossen und hatte mindestens Schuhgröße 39. Der Form halber befragte er ihn. Rue Sadi-Carnot 45, in Bagnolet. In der Quarta. Bass. Der Junge hatte eine Passion: Gitarre, E-Gitarre. Der Ex-Polizist musterte ihn eingehend: glattes Haar,
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