Weichei: Roman (German Edition)
Prolog
L ass sie zische, kommt ’ne Frische.«
So hallt mir die pädagogisch zwar fragwürdige, aber doch wertvolle Aussage meines Vaters in den Ohren. Ich erinnere mich noch genau. Ich war zwölf Jahre alt und kam heulend mit meinem Turnbeutel von der Schule nach Hause gerannt. Meine feste Freundin Wiebke, aus der 4 b, hatte mitten auf dem Schulhof ihre »Capri-Sonne Kirsch« mit dem Klassenclown geteilt. Ein unumstößliches Indiz für das Ende unserer dreitägigen Beziehung. Zwanzig Jahre später fühle ich mich genauso beschissen. Nur ohne Turnbeutel und ohne Capri-Sonne.
Es ist rot. Ich sitze im Auto an der Kreuzung Miquellallee zur Eckenheimer Landstraße, und die Ampel leuchtet in ihrem sattesten Rot, das sie zu dieser frühen Stunde auf die geriffelte Plexiglasscheibe der Lichtsignalanlage zaubern kann. Es ist so rot, dass es unweigerlich in den Augen brennt, wenn man länger hineinschaut. Ich spüre jedoch von dem Brennen rein gar nichts, da bereits etwas anderes das komplette Schmerzsensorium meines Körpers für sich in Anspruch nimmt.
Neben mir liegt eine Tüte mit fünf Brötchen auf dem Beifahrersitz, der, wie mir gerade auffällt, immer noch genau so eingestellt ist, dass Stefanies hundertdreiundsechzig Zentimeter großer Körper darin am bequemsten Platz finden
kann. Der Sitz ist durch all die Jahre mit ihr als Beifahrerin perfekt geformt worden und hat sich mit ihrer Anatomie nahezu synchronisiert. Wie ein geheimer Trampelpfad zwischen der grünen Grenze Ungarns und der ehemaligen DDR haben sich die Gebrauchsspuren mit der Zeit ausgetreten und eine Selbstverständlichkeit ins Sitzleder gebeult, die keiner Worte bedurften.
Doch nun ist nichts mehr so, wie es noch vor wenigen Minuten war. Auch nicht der Beifahrersitz.
Sofort verstelle ich die Lehne um zwei Positionen nach hinten. Das sollte fürs Erste genügen. Ich mache die grüne Grenze sozusagen wieder dicht und höre dabei die Stimme Hans Dietrich Genschers aus der Kopfstütze zu mir sprechen: Ich bin heute hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise … nicht genehmigt wurde.
Gelb. – Das kurze Lichtsignal scheint heute irgendwie schleppender als sonst zu reagieren. Ich kann die Ampel nur allzu gut verstehen und gaffe weiter der Welt entrückt in das grelle Rundlicht. Hm, irgendwie erinnert es mich an die aufgeschnittene Orange auf einer Packung Capri-Sonne …
Dann wandert mein Blick zurück zum Beifahrersitz.
Durch das kleine Sichtfenster der Papiertüte lachen mich noch immer die Brötchen unseres Lieblingsbäckers an. Zwei normale Brötchen, die ich bevorzuge, ein Sonnenblumenkörnerbrötchen und zwei Kürbiskernbrötchen, die Stefanie so gerne mag.
Meine normalen Brötchen verhalten sich mir gegenüber neutral, doch ihre, die Sonnenblumen- und Kürbiskernfraktion, hat sich mit der Herrin der Finsternis scheinbar solidarisiert. Sie lachen mich mit ihrem teigigen Gesicht aus. Voller Verachtung. Das dickere Kürbiskernbrötchen lacht dabei besonders
fies, weiß es doch, dass es heute nicht nur Teig und diese blöden Kerne, sondern noch einen besonders gehaltvollen Anteil in Form eines Verlobungsrings in sich trägt. So als wollte es sagen: Robert Süßemilch, was bist du nur für ein Idiot! – Was für ein grandioser Fehlschlag.
Ich hatte den Ring noch schnell vor der Haustür in die Mitte des Brötchenbauchs gedrückt, weil ich die Idee extrem witzig fand, Steffi auf diese Art zu fragen, ob sie mich nicht heiraten wolle.
Heute beim überraschenden Frühstück.
Ich dachte, es sei jetzt einfach an der Zeit. Der logische nächste Schritt. Sie hatte wahrscheinlich schon lange darauf gewartet, aber ich traute mich nicht so recht. Eine Charaktereigenschaft, die mich mein ganzes Leben schon verfolgt. Doch heute wollte ich über meinen Schatten springen und ihr zeigen, welch verantwortungsvoller Kerl in mir steckt. So weit die nackte Kalkulation.
Grün. – Dass Steffi mir so etwas antun könnte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Doch bereits, als ich den Schlüssel in das Schloss steckte, hatte ich so ein komisches Gefühl, obwohl ich zuvor schon Hunderte Male in ihre Wohnung gegangen war. Ich glaubte, ein Huschen wahrzunehmen. Gerade so wie in einem billigen New Yorker Motel, in dem die Kakerlaken flüchten, sobald man das Licht im Zimmer einschaltet. Wie sehr ich mit diesem Vergleich recht behalten sollte, ahnte ich da noch nicht.
Die Brötchen fest in der Hand steuerte ich auf die
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