Christmasland (German Edition)
schwach zum Laufen. Nach sieben Jahren Muskelschwund könnte er sich wahrscheinlich nicht einmal mehr allein aufsetzen.«
Ellen lauschte von ihrem Platz neben der Zimmertür aus – wenn Manx erneut die Augen aufschlagen sollte, wollte sie als Erste draußen sein –, aber als sie den Arzt reden hörte, ging sie steifbeinig zu ihm hinüber, schob den Ärmel an ihrem rechten Handgelenk zurück und zeigte ihm die Blutergüsse an der Stelle, wo Manx sie gepackt hatte.
»Sieht das etwa aus, als könnte es von einem Kerl stammen, der zu schwach ist, um sich aufzusetzen? Ich dachte, er würde mir den Arm aus dem Gelenk reißen.« Ihre Füße schmerzten beinahe genauso sehr wie die blauen Flecken an ihrem Handgelenk. Sie hatte die blutdurchtränkte Strumpfhose ausgezogen und ihre Füße mit heißem Wasser und antibakterieller Seife geschrubbt, bis die Haut ganz wund gewesen war. Jetzt trug sie Turnschuhe. Die anderen Schuhe hatte sie weggeworfen. Selbst wenn sie sie hätte retten können, würde sie es wahrscheinlich doch nicht über sich bringen, sie je wieder zu tragen.
Der Arzt, ein junger Inder namens Patel, warf ihr einen betretenen Blick zu und beugte sich vor, um Manx mit einer Taschenlampe in die Augen zu leuchten. Die Pupillen des Patienten weiteten sich nicht. Patel bewegte die Taschenlampe hin und her, aber Manx’ Augen blieben starr auf einen Punkt neben Patels linkem Ohr gerichtet. Der Arzt klatschte einen Zentimeter von Manx’ Nase entfernt in die Hände. Manx blinzelte nicht. Patel schloss vorsichtig die Augen des Patienten und warf einen Blick auf das EKG .
»Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht von den letzten Dutzend EKG s«, sagte Patel. »Der Patient erreicht einen Wert von neun Punkten auf der Glasgow-Koma-Skala und weist langsame Alphawellen-Aktivität auf, wie sie für ein Alphakoma typisch ist. Wahrscheinlich hat er im Schlaf geredet, Schwester. Selbst bei Kartoffeln wie ihm kommt das manchmal vor.«
»Seine Augen waren offen «, sagte sie. »Er hat mich direkt angeschaut. Er kannte meinen Namen und den meines Sohnes.«
Patel sagte: »Haben Sie sich in seiner Nähe vielleicht mal mit einer anderen Schwester unterhalten? Wer weiß, was der Mann unbewusst so aufgeschnappt hat. V ielleicht haben Sie jemand erzählt, Ihr Sohn hätte einen Buchstabierwettbewerb gewonnen. Manx hört das mit und murmelt es irgendwann im Schlaf.«
Sie nickte, aber insgeheim dachte sie: Er kannte Josiahs zweiten Vornamen. Und den hatte sie mit Sicherheit niemand im Spital gegenüber erwähnt. Für Josiah John Thornton gibt es einen Platz im Christmasland, hatte Charlie Manx zu ihr gesagt, und für Sie einen im Haus des Schlafes.
»Ich bin nicht dazu gekommen, ihm seine Bluttransfusion zu geben«, sagte sie. »Er ist schon seit ein paar Wochen anämisch. Hat sich wegen dem Katheter einen Harnwegsinfekt zugezogen. Ich gehe gleich mal eine neue Konserve holen.«
»Nicht nötig. Ich werde dem alten V ampir sein Blut selbst besorgen. Hören Sie. Das war ein ziemlicher Schock für Sie. Jetzt erholen Sie sich erst mal davon. Gehen Sie nach Hause. Sie haben doch nur noch eine Stunde bis Schichtende, oder? Nehmen Sie die frei. Und morgen auch. V ielleicht haben Sie ja noch ein paar Einkäufe zu erledigen? Dann machen Sie das. Denken Sie nicht mehr über die Sache nach und entspannen Sie sich. Immerhin ist Weihnachten, Schwester Thornton.« Der Arzt und zwinkerte ihr zu. »Ist das nicht die schönste Zeit des Jahres?«
SHORTER WAY
198 6 –1989
Haverhill, Massachusetts
D as Gör war acht Jahre alt, als es das erste Mal auf der Suche nach einem verlorenen Gegenstand die überdachte Brücke überquerte.
Das geschah so: Sie waren gerade erst vom See zurückgekehrt, und das Gör befand sich in seinem Zimmer und hängte ein Poster von David Hasselhoff auf – er stand in einer schwarzen Lederjacke mit verschränkten Armen vor K.I.T.T. und zeigte sein typisches Grinsen, bei dem sich Grübchen auf seinen Wangen bildeten –, als es aus dem Schlafzimmer der Eltern einen entsetzten Aufschrei hörte.
Das Gör hatte einen Fuß auf das Kopfbrett des Bettes gestellt und drückte das Poster mit dem Oberkörper gegen die Wand, während es die Ecken mit braunem Klebeband befestigte. Es erstarrte und legte lauschend den Kopf schief. Besorgt war das Gör nicht, es fragte sich lediglich, worüber sich seine Mutter jetzt schon wieder aufregte. Es klang so, als hätte sie irgendetwas verloren.
»… hatte ihn!«, rief die Mutter. »Ich
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