Christmasland (German Edition)
obwohl ihr Ziel schon von dem Moment an festgestanden hatte, als sie die verletzenden Worte ihres V aters – was bist du doch für ein hässlicher Mensch – gehört hatte. Sie betrat die Garage durch die Seitentür und holte ihr Raleigh.
Das Raleigh Tuff Burner hatte sie im Mai zum Geburtstag bekommen, und es war das beste Geschenk aller Zeiten. Selbst mit dreißig, wenn ihr Sohn sie nach dem schönsten Geschenk fragen würde, das sie je erhalten hatte, würde ihr sofort das leuchtend blaue Raleigh Tuff Burner mit den bananengelben Felgen und den breiten Reifen einfallen. Es war ihr liebster Besitz, besser noch als ihr Magic 8 Ball, ihr KISS Colorforms-Set oder sogar ihr Coleco V ision.
Sie hatte das Rad drei Wochen vor ihrem Geburtstag im Schaufenster von Pro Wheelz entdeckt, als sie mit ihrem V ater in der Stadt gewesen war, und bei seinem Anblick war ihr die Kinnlade heruntergeklappt. Ihr amüsierter V ater war mit ihr in den Laden gegangen und hatte den V erkäufer überredet, sie das Rad ausprobieren zu lassen. Der V erkäufer hatte ihr dringend geraten, sich noch andere Räder anzusehen, weil er der Meinung war, das Tuff Burner sei zu groß für sie, selbst mit dem Sattel auf der niedrigsten Position. Das hatte sie überhaupt nicht nachvollziehen können. Es war wie Magie, als würde sie an Halloween auf einem Hexenbesen durch die Nacht reiten, tausend Meter über dem Erdboden. Ihr V ater hatte dem V erkäufer zum Schein recht gegeben und gesagt, dass sie ein solches Rad haben könnte, wenn sie älter war.
Drei Wochen später stand es in der Einfahrt, mit einer großen silbernen Schleife am Lenker. »Jetzt bist du ja älter, oder?«, hatte ihr V ater mit einem Augenzwinkern gesagt.
Sie schlüpfte in die Garage, wo das Tuff Burner an der Wand lehnte, direkt neben dem Motorrad ihres V aters, einer schwarzen 1979er Harley Davidson Shovelhead, mit der er im Sommer immer zur Arbeit fuhr. Ihr V ater war Sprengmeister und arbeitete im Straßenbau. Er benutzte Explosivstoffe, um Gestein zu sprengen, meistens ANFO , manchmal aber auch simples TNT . Man musste schon ziemlich clever sein, um seine schlechten Gewohnheiten zu Geld zu machen, hatte er einmal zu V ic gesagt. Sie hatte gefragt, was er damit meinte. Und er hatte ihr erklärt, dass die meisten Leute, die gern Bomben legten, entweder im Gefängnis landeten oder sich irgendwann selbst in die Luft sprengten. Er hingegen verdiente sechzigtausend Dollar im Jahr und würde richtig abkassieren, wenn er sich bei der Arbeit verletzen sollte – er war bis über die Hutschnur versichert. Allein sein kleiner Finger war zwanzigtausend Dollar wert. Auf seinem Motorrad befand sich ein Airbrush-Gemälde von einer absurd überproportionierten Blondine, die einen Bikini in den Farben der amerikanischen Flagge trug und vor einem Flammenhintergrund auf einer Bombe ritt. V ics V ater war ein knallharter Typ. Andere V äter bauten Dinge. Er jagte Zeug in die Luft und fuhr eine Harley, die Zigarette im Mund, mit der er die Lunten anzündete. Besser ging’s nicht.
Das Gör hatte die Erlaubnis, mit ihrem Raleigh durch den Pittman-Street-Wald zu fahren – der inoffizielle Name für einen etwa dreißig Morgen umfassenden Waldstreifen aus Kiefern und Birken, der direkt hinter ihrem Haus begann. Sie durfte bis zum Merrimack River und der überdachten Brücke dort fahren, dann war Schluss.
Auf der anderen Seite der Brücke – die den Namen Shorter Way Bridge trug – ging der Wald noch weiter, aber V ic durfte sie nicht überqueren. Die Shorter Way war siebzig Jahre alt, zehn Meter lang und hing in der Mitte schon leicht durch. Ihre Mauern neigten sich dem Fluss entgegen, und sie sah aus, als könnte ein Windstoß sie zum Einsturz bringen. Der Zugang war mit einem Maschendrahtzaun abgesperrt. Allerdings hatten irgendwelche Jugendliche an einer Stelle das Drahtgeflecht hochgebogen. Die Kids gingen regelmäßig auf die Brücke, um Gras zu rauchen und rumzuknutschen. Auf einem Blechschild am Zaun stand: LEBENSGEFAHR! BETRETEN VERBOTEN! HAVERHILL P.D. Die Brücke war ein Ort für Kriminelle, Obdachlose und V errückte.
Natürlich war auch V ic schon auf der Brücke gewesen (zu welcher der drei Kategorien sie wohl gehörte?), den Warnungen ihres V aters und dem Schild zum Trotz. Sie hatte sich gefragt, ob sie sich trauen würde, unter dem Zaun hindurchzuschlüpfen und zehn Schritte auf der Brücke zu gehen. Und das Gör hatte noch nie vor einer Mutprobe gekniffen, selbst wenn es nur
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