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Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Titel: Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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ein, dass ein Polizist nichts von seinem Privatleben preisgeben sollte, und fügte hinzu: »Darf ich fragen, wo Ihre kranke Tante wohnt, Miss?«
    Clarissa überlegte kurz. Wenn sie Frank Whittler und einer möglichen Verhaftung entkommen wollte, musste sie zum Hafen oder zum Bahnhof, und beide lagen im Norden der Stadt. Also musste ihre vermeintliche Tante möglichst im Süden wohnen, falls Frank ebenfalls den Polizisten traf und nach ihr fragte. Sie rief sich die Straßennamen ins Gedächtnis. »In der Pacific Street.«
    »Am False Creek? Ist vielleicht besser, wenn ich Sie begleite, Miss.«
    »Nicht nötig, Officer«, wehrte sie rasch ab. Sie lächelte ihn an. »Ich komme schon zurecht. Ist ja nicht weit.«
    »Die Tasche ist nicht zu schwer?«
    »Nein, da sind nur ein paar Kleider meiner Tante drin. Ich hab sie bei mir zu Hause gewaschen. Ein paar Kleider und Schokolade … Die isst sie gern.«
    »Na, dann. Passen Sie auf sich auf, Miss!«
    Clarissa ging langsam weiter. Sie spürte die Blicke des Polizisten in ihrem Rücken und musste sich zwingen, nicht zu schnell zu laufen, selbst wenn die Gefahr bestand, dass Frank Whittler auf der Robson Street auftauchte, solange sie noch nicht abgebogen war. Im trüben Schein der Straßenlampen hielt sie auf die nächste Kreuzung zu. Ihre Tasche, die tatsächlich so leicht war, wie sie dem Polizisten erklärt hatte, wog plötzlich schwer in ihrer Hand, und sie musste sich zwingen, sie nicht von einer Hand in die andere zu wechseln, um keinen unnötigen Verdacht zu erregen. Sie kam sich vor wie eine Diebin.
    An der Kreuzung überquerte sie die Straße und bog in die Howe Street nach Süden ab. Aus den Augenwinkeln suchte sie vergeblich nach dem Polizisten, der wohl wieder in den Hauseingang verschwunden war. Sie sah gerade noch, wie Frank Whittler aus einer Nebenstraße gerannt kam, mitten auf der Straße stehen blieb und fluchte, als er sie nirgendwo entdecken konnte. Sie versteckte sich hinter dem Eckhaus und spähte vorsichtig zu ihm hinüber, sah den Officer aus dem Schatten treten und hörte ihn fragen: »Was ist denn mit Ihnen los, Mister? Warum sind Sie so nervös? Gibt es ein Problem?«
    »Ein Problem?«, erwiderte er. »Natürlich gibt es ein Problem! Und wenn Sie nicht so untätig hier rumstehen würden, hätten wir es vielleicht längst gelöst. Ich suche eine junge Frau. Dunkle Haare, ziemlich groß und schlank …«
    »Hat sie Ihnen vielleicht den Laufpass gegeben, Mister?« Das süffisante Lächeln des Polizisten war bis in ihr Versteck zu spüren. Anscheinend glaubte er, dass sie mit Frank Whittler befreundet gewesen und weggelaufen war.
    »Den Laufpass gegeben? Was fällt Ihnen ein?« Frank Whittler war außer sich vor Wut. »Wissen Sie überhaupt, wer ich bin? Frank Whittler von der Canadian Pacific. Sie wissen, dass diese Stadt der Eisenbahn gehört, und die CP auch über die Zusammensetzung der Polizei entscheidet. Also sagen Sie mir jetzt endlich, wohin die Frau gelaufen ist, oder Sie fliegen hochkantig raus! Sie ist eine Diebin, verstehen Sie? Eine gottverdammte Diebin! Sie hat mir fünfhundert Dollar gestohlen! Die leere Brieftasche lag auf ihrem Bett! Und als ich sie aufhalten wollte, ging sie mit einem Messer auf mich los!«
    »Eine junge Frau? Mit einer Reisetasche?
    »Ja, verdammt!
    »Die ist zur Pacific Street runter. Wollte angeblich ihre kranke Tante aufsuchen. Hören Sie, woher sollte ich denn wissen, dass sie eine Diebin ist?«
    »Geschenkt«, erwiderte er und lief weiter.
    Clarissa hatte den Wortwechsel der beiden genutzt, um weiter nach Osten zu laufen und im Schutz der Dunkelheit, die unter einer defekten Straßenlampe herrschte, die Robson Street nach Norden zu überqueren und unbemerkt in die Granville Street abzubiegen. Am Ende der Straße ragte der Bahnhof der Canadian Pacific empor, ein wuchtiges Gebäude mit turmähnlichen Seitenflügeln, die es wie ein Stadttor einer mittelalterlichen Stadt erscheinen ließen.
    Jetzt lief sie nicht mehr, sie rannte. Getrieben von der Panik, mehrere Monate, vielleicht sogar Jahre in einem Gefängnis verbringen zu müssen, falls man sie erwischte, hastete sie auf das Ende der Straße zu. Bis zum Bahnhof waren es fünf Häuserblocks, und sie war vollkommen außer Atem, als sie ihr Ziel erreichte und sich in einem Hauseingang von der Anstrengung erholte.
    Sie spähte zurück und konnte niemanden entdecken. Die Straße lag leer und verlassen im Schatten der mehrstöckigen Häuser. Kein Schatten flackerte

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