Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
hatte sich in den Wald zurückgezogen.
Der Anführer der Raben stand am Ufer eines ins Breitwasser mündenden Flusses und präparierte Lindenborke. Es war ein heißer Tag, aber im grünlichen Schatten der Bäume war es angenehm kühl. Süßer Blütenduft erfüllte die Luft, in den Baumkronen summten Bienen.
»Soso, die Wahrheit willst du wissen«, wiederholte Fin-Kedinn und prüfte mit dem Daumen die Schneide seiner Axt. »Worum geht es denn?«
»Um alles«, sagte Torak ungehalten. Die Anspannung der letzten Tage machte sich bemerkbar. »Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?«
Fin-Kedinn hackte mit einem wohl gezielten Axthieb einen Schössling von einer mächtigen Linde und fing an, die Rinde abzuziehen. »Worüber hätte ich denn mit dir sprechen sollen?«
»Dass ich ein Seelenwanderer bin! Dass der Robbenschamane mein Onkel war! Dass ich an der Krankheit schuld bin!«
Fin-Kedinn zuckte zusammen. »Das darfst du nicht sagen!«
»Er hat die Krankheit nur meinetwegen verbreitet«, widersprach Torak. » Meinetwegen mussten Oslak und die anderen sterben. Es ist alles meine Schuld!«
»Nein!« Die blauen Augen blitzten. »Du hast nichts Böses getan! Niemand kann dich für seine niederträchtigen Taten verantwortlich machen. Daran trägt allein er die Schuld, Torak, vergiss das nie.«
Sie maßen einander mit Blicken, dann legte der Anführer die Rindenstreifen zu den anderen. »Außerdem irrst du dich. Ich wusste nicht, dass du ein Seelenwanderer bist, das weiß ich erst, seit Renn es mir gestern Abend erzählt hat. Niemand hat das gewusst.«
»Aber… ich dachte, Fa hätte es Saeunn erzählt. Als ich klein war, damals beim Sippentreffen am Meer.«
Fin-Kedinn schüttelte den Kopf. »Er hat ihr erzählt, dass er dich als Säugling zu einer Wölfin in die Höhle gelegt hat und dass du vielleicht ausersehen bist, eines Tages die Seelenesser zu bezwingen, aber er hat nicht gesagt, wie er darauf kommt.«
»Wieso hat er es ihr verschwiegen?«
»Wer weiß? Er war fast sein ganzes Leben lang auf der Flucht. Er war ein misstrauischer Mensch.«
Sogar dem eigenen Sohn gegenüber, dachte Torak. Das war das Schlimmste: dass er manchmal wütend auf Fa war, weil er ihn nicht eingeweiht hatte …
»Er hat getan, was er für das Beste hielt«, fuhr Fin-Kedinn fort. »Er wollte, dass du eine unbeschwerte Kindheit hast.«
Torak ließ sich auf den Boden fallen und rupfte Grashalme aus. »Du hast beide gekannt, nicht wahr? Meinen Vater und seinen Bruder.«
Fin-Kedinn schwieg.
»Bitte erzähl mir von ihnen.«
Der Anführer der Raben strich sich seufzend den Bart. »Unsere erste Begegnung liegt inzwischen achtundzwanzig Sommer zurück. Ich war elf und dein Vater neun. Er gehörte wie sein Vater dem Wolfsclan an, sein Bruder, der in meinem Alter war, wie ihre Mutter dem Robbenclan. Der Wolfsclan hat uns drei für fünf Monde als Ziehsöhne aufgenommen.«
»Der Wolfsclan?«, wunderte sich Torak. »Denen bin ich noch nie begegnet, wieso…«
»Die Wölfe haben nicht immer so zurückgezogen gelebt wie heute. Die Zeiten ändern sich. Da wird manch einer vorsichtiger.« Fin-Kedinn band die Rindenstreifen mit einer Weidenrute zusammen. »Wir drei wurden Freunde. Meine Leidenschaft war die Jagd, bei den beiden war es von Anfang an die Schamanenkunst. Dein Vater war begierig darauf, etwas über Bäume, Jäger und Wild zu lernen. Seinem Bruder aber…«, er zurrte den Knoten mit einem Ruck fest, »… dem ging es immer nur um Macht.«
Er warf sich das Bündel über die Schulter, watete ein Stück in den Fluss hinein und klemmte es zum Weichen unter einen großen Stein. »Sechs Winter kamen und gingen und wir blieben gute Freunde. Doch im siebten Winter wurde alles anders.« Das Wasser strudelte um seine Knöchel, als er sich nach einem anderen Rindenbündel bückte, das schon ein paar Tage im Fluss lag. »Dein Vater wurde zum Wolfsschamanen ernannt.« Er warf das Bündel aufs Ufer. »Sein Bruder war zwar der Ältere und, wie manche fanden, auch der Begabtere, aber die Berufung zum Robbenschamanen blieb ihm versagt.« Fin-Kedinn wiegte den Kopf. »Das hat ihn sehr gekränkt. Wie sehr, begriffen wir erst, als es schon zu spät war. Er verließ seinen Clan und streifte allein umher.«
»Wo ist er denn hingegangen?«
Fin-Kedinns Miene wurde bekümmert. »Das weiß ich nicht, denn ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber später erzählte mir dein Vater, sein Bruder sei wieder aufgetaucht. Er hätte sich einer Gruppe Schamanen
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