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Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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wo sich die tückischen langen Klauen tief in den Lehm gebohrt hatten, scharf umrissen abzeichneten.
    Schau hinter dich , Torak.
    Er fuhr herum.
    Weiden. Erlen. Tannen.
    Kein Bär.
    Er erschrak, als sich neben ihm ein Rabe auf einem Ast niederließ. Der Vogel legte unbeholfen die schwarzen Flügel an und heftete ein rundes schwarzes Auge auf ihn. Dann ruckte er mit dem Kopf, krächzte und flog davon.
    Es kam Torak vor, als wollte ihm der Vogel etwas zeigen. Er blickte ihm nach.
    Dunkle Eiben. Tropfnasse Fichten. Dicht. Undurchdringlich.
    Aber höchstens zehn Schritt entfernt, bewegten sich Zweige im Dickicht. Da war etwas. Etwas sehr Großes.
    Torak versuchte, die Ruhe zu bewahren und nachzudenken, aber sein Kopf fühlte sich vor lauter Angst ganz leer an.
    Das Gefährliche an Bären ist, dass sie sich so leise wie ein Lufthauch bewegen können, sagte sein Vater immer. Ein Bär kann zehn Schritt neben einem lauern, ohne dass man es merkt. Gegen einen Bären kann man sich nicht wehren. Er ist schneller. Er kann besser klettern. Allein wird man nicht mit ihm fertig. Man kann ihn nur beobachten und versuchen, ihm klar zu machen, dass man weder Feind noch Beute ist.
    Torak zwang sich, ganz still zu stehen. Nicht weglaufen. Nicht weglaufen. Vielleicht hat er dich nicht bemerkt.
    Ein dumpfes Fauchen. Wieder bewegten sich die Zweige.
    Er hörte es rascheln, als sich das Tier der Hütte näherte, wo sein Vater lag. Er blieb reglos stehen, als es an ihm vorbeitappte. Feigling!, schalt er sich stumm. Du versuchst ja nicht mal, Fa zu beschützen!
    Aber was kannst du schon machen?, widersprach die leise Stimme der Vernunft. Fa hat gewusst, dass es so kommen würde. Deshalb hat er dich zum Fluss geschickt. Er hat gewusst, dass ihn der Bär holen kommt…
    »Torak!«, hörte er den Vater schreien. »Lauf!«
    Krähenschwärme stoben krächzend auf. Ein Gebrüll erschütterte den Wald, ein nicht enden wollendes Gebrüll, von dem Torak schier der Schädel platzte.
    »Fa!« , schrie er gellend.
    »Lauf!«
    Noch einmal bebte der Wald. Noch einmal hörte er seinen Vater rufen, dann verstummte er jäh.
    Torak biss sich auf die Faust.
    Zwischen den Bäumen erspähte er in den Trümmern der Hütte einen großen schwarzen Schatten.
    Dann drehte er sich um und rannte los.

Kapitel 2

    TORAK STÜRMTE durchs Erlendickicht und versank bis zu den Knien im Morast. Die Birken verständigten sich flüsternd über den Eindringling. Stumm beschwor er sie, dem Bären nichts zu verraten.
    Sein verletzter Arm brannte, und seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug, aber er traute sich nicht, stehen zu bleiben. Der Wald war voller Augen. Er stellte sich vor, wie ihn der Bär verfolgte. Er rannte weiter.
    Er scheuchte einen jungen Keiler auf, der nach Knollenkümmel grub, und grunzte eine Entschuldigung, damit das Tier nicht auf ihn losging. Der Keiler antwortete mit einem übellaunigen Schnauben und ließ ihn ziehen.
    Ein Vielfraß knurrte Verschwinde! , als er vorbeilief, und er knurrte so wütend zurück, wie er konnte, denn bei Vielfraßen musste man sehr bestimmt sein. Dieser hier kam jedenfalls zu dem Schluss, dass Torak es ernst meinte, und floh auf einen Baum.
    Im Osten war der Himmel wolfsgrau. Ferner Donner grollte. Das Licht vor dem Gewitter färbte die Bäume leuchtend grün. Im Gebirge gibt es Regen, ging es Torak durch den Kopf. Gib auf Sturzbäche Acht.
    Auf diesen Gedanken konzentrierte er sich, um seine Angst zu vergessen. Es gelang ihm nicht. Er rannte weiter.
    Irgendwann war er außer Atem und musste Halt machen. Unter einer Eiche ließ er sich auf den Boden fallen. Als er den Kopf hob und in das flirrende grüne Blätterdach emporblickte, hörte er den Baum vor sich hin murmeln, doch er ließ den Jungen nicht an seinen Geheimnissen teilhaben.
    Zum ersten Mal in seinem Leben war Torak ganz allein. Er fühlte sich nicht mehr als Teil des Waldes. Er hatte das Gefühl, als hätte seine Weltseele ihre Verbindung zu allem Lebendigen durchtrennt – zu Baum und Vogel, Jäger und Wild, Fluss und Fels. Niemand und nichts auf der ganzen Welt wusste, wie es ihm erging, und es wollte auch niemand wissen.
    Der schmerzende Arm riss ihn aus seinen Gedanken. Er holte den letzten Rest Birkenbast aus dem Medizinbeutel und wickelte ihn um die Wunde. Dann stand er auf und sah sich um.
    In diesem Teil des Waldes war er aufgewachsen. Hier kannte er jeden Hang, jede Lichtung. Durch das Tal im Westen floss das Rotwasser. Für Kanus war es zu seicht, aber wenn

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