Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
sich wieder davon, ohne die eine klare, so lieb gewonnene Stimme je zu übertönen. Wolf war nicht allein.
Toraks Augen füllten sich mit Tränen. Jetzt hatte er es begriffen. Es war Wolfs Abschiedsgeheul. Er kam nicht mehr zurück.
Das Heulen verebbte. Torak senkte den Kopf. »Wenigstens ist er noch am Leben«, sagte er laut. »Nur darauf kommt es an. Er ist am Leben.«
Am liebsten hätte er eine Antwort geheult, hätte Wolf versichert, dass es nicht für immer war, dass er eines Tages einen Weg finden würde, wie sie wieder zusammen sein konnten. Aber er wusste nicht, wie er das ausdrücken sollte, denn die Wolfssprache kennt keine Zukunft.
Stattdessen sagte er es in seiner eigenen Sprache. Die verstand Wolf zwar nicht, aber schließlich gab er das Versprechen nicht nur ihm, sondern ebenso sich selbst.
»Eines Tages«, rief er und seine Stimme hallte durch die helle, klare Luft, »treffen wir uns wieder. Dann gehen wir beide wieder zusammen im Wald jagen. Zusammen…«
»Die Stimme versagte ihm den Dienst.
»Das verspreche ich dir. Dir, meinem Bruder, dem Wolf.«
Es kam keine Antwort, aber Torak hatte auch keine erwartet. Er hatte sein Versprechen kundgetan.
Er bückte sich und kühlte sein brennendes Gesicht mit einer Hand voll Schnee. Ein herrliches Gefühl. Er nahm noch eine Hand voll und rieb sich das Todeszeichen von der Stirn.
Dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg, ging zurück in den Großen Wald.
Nachwort
WENN DU DICH in Toraks Welt zurückversetzen könntest, würde dir einiges verblüffend bekannt vorkommen, anderes dagegen ausgesprochen fremd. Du müsstest dich sechstausend Jahre zurückdenken, in eine Zeit, zu der ganz Nordwesteuropa von Wald bedeckt war. Ein paar tausend Jahre zuvor ging die Eiszeit zu Ende und damit verschwanden auch Mammuts und Säbelzahntiger. Zwar gab es schon viele Bäume, Pflanzen und Tiere, die wir heute kennen, aber die Waldpferde waren gedrungener als die heutigen Rassen, und beim Anblick eines Auerochsen hättest du bestimmt über das riesige wilde Rind mit den spitzen Hörnern gestaunt, das eine Schulterhöhe von fast zwei Metern hatte.
Die Menschen zu Toraks Zeit sahen dir und mir durchaus ähnlich, aber ihre Lebensweise war von der unsrigen ganz verschieden. Sie lebten als Jäger und Sammler in kleinen Sippen zusammen und zogen von Ort zu Ort. Manchmal schlugen sie ihr Lager nur für ein paar Tage auf, wie Torak und Fa vom Wolfsclan, manchmal blieben sie aber auch einen ganzen Mond oder Sommer am selben Ort, so wie der Raben- und der Eberclan. Ackerbau kannten sie noch nicht und sie konnten weder schreiben noch Metall gewinnen und verarbeiten und auch das Rad war noch nicht erfunden. Aber das vermissten sie gar nicht. Es waren echte Überlebenskünstler. Sie wussten alles über die Tiere, Bäume, Pflanzen und Steine des Waldes. Wenn sie etwas brauchten, wussten sie entweder, wo sie danach suchen mussten, oder sie stellten es her.
Ich habe mein Wissen zum größten Teil aus der Archäologie bezogen, mit anderen Worten, aus den Spuren unserer Vorfahren in Gestalt von Waffen, Nahrungsresten, Kleidungsstücken und Hütten, wie sie noch heute im Wald zu finden sind. Aber das genügte mir nicht. Was ging in ihren Köpfen vor? Was für Gedanken machten sie sich über Leben und Tod und wo kamen sie überhaupt her? Deshalb habe ich mich auch mit der Lebensweise von Jägern und Sammlern in jüngerer Zeit befasst, zum Beispiel mit den Indianerstämmen Amerikas, den Inuit (Eskimos), den südafrikanischen San und den japanischen Ainu.
Trotzdem blieb die Frage offen, wie es sich eigentlich anfühlt, im Wald zu leben. Wie schmeckt Fichtenharz? Wie schmecken Rentierherz und geräucherter Elch? Wie schläft es sich in den vorn offenen Hütten des Rabenclans?
Das lässt sich zum Glück noch heute nachvollziehen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, denn Teile des Großen Waldes haben sich bis in unsere Zeit erhalten. Ich habe sie aufgesucht, und manchmal fühlt man sich im Handumdrehen sechstausend Jahre zurückversetzt. Wenn man um Mitternacht das Rotwild röhren hört oder auf frische Wolfsfährten stößt, wenn man plötzlich einen ziemlich übel gelaunten Bären davon überzeugen muss, dass man weder sein Feind noch ein Beutetier ist… Dann ist man wieder in Toraks Welt. Zum Schluss möchte ich noch einigen Leuten meinen Dank aussprechen. Ich danke Jorma Patosalmi, dass er mich durch die Wälder Nordfinnlands geführt hat, dass er mich ein
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