Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
im Frühjahr die Lachse vom Meer heraufkamen, konnte man dort gut angeln. Am östlichen Rand des Großen Waldes lag ein weites, sonniges Gehölz, in dem sich das Wild im Herbst dick und rund fraß und wo es Beeren und Nüsse im Überfluss gab, und im Süden war das Hochmoor, wo die Rentiere im Winter Moos ästen.
Fa sagte immer, das Beste an diesem Teil des Waldes sei, dass kaum andere Menschen herkamen. Höchstens ab und zu die sonderbaren Leute vom Weidenclan, der am Meer im Westen lebte, oder Angehörige des Natternclans aus dem Süden, aber keiner ließ sich hier für längere Zeit nieder. Sie zogen lediglich vorüber, jagten, was sie benötigten, wie es alle Bewohner des Großen Waldes taten, und keiner ahnte, dass hier auch Fa und Torak ihr Jagdrevier hatten.
Torak hatte nie darüber nachgedacht, warum das so war. So hatte er schon immer gelebt: allein mit Fa und fern aller Sippen. Doch jetzt sehnte er sich zum ersten Mal nach anderen Menschen. Er hätte gern laut gerufen, um Hilfe geschrien.
Aber Fa hatte ihm dringend davon abgeraten.
Außerdem konnte ihn der Bär dann hören.
Der Bär.
Panische Angst ergriff ihn. Er kämpfte sie nieder. Er holte tief Luft, dann lief er in nördlicher Richtung weiter, diesmal in gleichmäßigem Trab.
Im Laufen las er die Tierfährten. Elchhufe. Auerochsenkot. Hörte ein Waldpferd im Farn rascheln. Der Bär hatte die anderen Tiere nicht verscheucht. Jedenfalls bis jetzt nicht.
Hatte sich sein Vater geirrt? Hatte der nahende Tod seinen Geist verwirrt?
»Dein Vater ist verrückt!«, hatten die anderen Kinder gehöhnt, als Fa und er vor fünf Sommern am allsommerlichen Sippentreffen an der Küste teilgenommen hatten. Es war Toraks allererstes Sippentreffen und es war schrecklich gewesen. Fa hatte ihn nie wieder mitgenommen.
»Es heißt, ein Geist hat ihm seinen Atem eingeblasen«, hatten die Kinder gespottet. »Deshalb hat er seine Sippe verlassen und lebt allein.«
Der damals siebenjährige Torak war außer sich geraten. Er hätte eine Prügelei angezettelt, wenn sein Vater nicht vorbeigekommen wäre und ihn weggezerrt hätte. »Kümmere dich nicht um sie, Torak«, hatte Fa lachend gesagt. »Das ist dummes Zeug.«
Er hatte wie immer Recht gehabt.
Auch was den Bären anging?
Vor ihm lag eine Lichtung. Er stolperte ins Sonnenlicht und Aasgeruch schlug über ihm zusammen.
Schwankend blieb er stehen.
Der Bär hatte die Waldpferde wie zerbrochenes Spielzeug fallen lassen. Kein Aasfresser hatte sich an die Kadaver herangetraut. Nicht einmal Fliegen hatten sich darauf niedergelassen.
Torak hatte noch nie gesehen, dass ein Bär seine Beute so zurichtete. Ein gewöhnlicher Bär zieht seinem Opfer erst ein Stück Fell ab, macht sich dann über die Eingeweide und den hinteren Teil her und versteckt den Rest der Beute für später. Wie jedem Jäger ist ihm Vergeudung fremd. Dieser Bär dagegen hatte von jedem Pferd nur einen einzigen Bissen gefressen. Er hatte nicht aus Hunger, sondern zum Vergnügen getötet.
Vor Torak lag ein totes Fohlen. Seine kleinen Hufe waren vom letzten Mal, als es am Fluss seinen Durst gestillt hatte, noch schlammverkrustet. Torak wurde übel. Was war das für eine Kreatur, die eine ganze Herde abschlachtete? Welches Tier tötete zum bloßen Vergnügen?
Wieder sah er die Augen des Bären vor sich, in die er einen angstvollen Atemzug lang geblickt hatte. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Vernichtender Zorn und unbändiger Hass auf alles Lebendige hatten darin gestanden. Die wütende, brennende Wirrnis der Anderen Welt.
Sein Vater hatte doch Recht gehabt. Das war kein Bär. Es war ein Dämon. Er würde so lange töten, bis der ganze Wald tot war.
Mit diesem Bären wird niemand fertig, hatte Fa gesagt. Hieß das, der Wald war dem Untergang geweiht? Und wieso musste ausgerechnet er, Torak, den Berg des Weltgeistes suchen? Jenen Berg, den noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte?
Dein Gefährte zeigt dir den Weg , hörte er den Vater sagen.
Wie? Und wann?
Torak verließ die Lichtung und lief im Schutz der Bäume weiter.
Er lief und lief. Er lief, bis er seine Beine nicht mehr spürte. Als er an einen bewaldeten Abhang kam, konnte er nicht mehr weiter. Völlig außer Atem, blieb er stehen und stützte keuchend die Hände auf die Knie.
Plötzlich hatte er furchtbaren Hunger. Er tastete nach seinem Vorratsbeutel und stöhnte enttäuscht auf. Der Beutel war leer. Erst jetzt fielen ihm die ordentlich gebündelten Streifen Räucherfleisch
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