Chronik der dunklen Wälder - Wolfsbruder: Band 1 (German Edition)
»dass wir dir nichts mehr erzählen sollen. Sie glaubt, dass dich das morgen nur ablenkt.«
»Was denn?«
»Alles, was du wissen willst.«
Torak überlegte. »Ich will alles wissen.«
»Das geht nicht. Versuch’s noch mal.«
Torak zupfte an einem Riss im Knie seines Beinleders. »Warum ich? Warum bin ich der Lauscher?«
Fin-Kedinn strich sich wieder den Bart. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Hat es mit meinem Vater zu tun? Weil er der Schamane des Wolfsclans war? Der Feind des verkrüppelten Wanderers, der den Bären erschaffen hat?«
»Ja … unter anderem.«
»Aber wer war dieser Wanderer? Warum waren die beiden Feinde? Fa hat von ihm nie gesprochen.«
Der Anführer der Raben schürte mit einem Ast das Feuer und die Falten um seine Mundwinkel vertieften sich. Ohne den Kopf zu wenden, fragte Fin-Kedinn: »Hat dein Vater je die Seelenesser erwähnt?«
»Nein«, antwortete Torak verdutzt. »Von denen hab ich auch noch nie gehört.«
»Da bist du aber der Einzige im Großen Wald.« Fin-Kedinn verstummte. Der flackernde Feuerschein malte tiefe Schatten in sein Gesicht. »Die Seelenesser«, fuhr er schließlich fort, »waren sieben Schamanen, jeder aus einer anderen Sippe. Zuerst waren sie nicht böse. Sie halfen den anderen Sippen. Jeder von ihnen besaß eine besondere Begabung. Einer war klug wie eine Schlange und kannte sich mit Kräutern und Heiltränken aus. Der Zweite war stark wie eine Eiche und wollte alles über das Wesen der Bäume erfahren. Die Dritte hatte einen flinkeren Verstand, als eine Fledermaus fliegt. Sie verzauberte am liebsten kleine Tiere, damit sie ihr zu Willen waren. Ein anderer war stolz und ehrgeizig. Er beschäftigte sich mit Dämonen, die er zu beschwören und sich untertan zu machen suchte. Es heißt, wieder ein anderer konnte die Toten anrufen.« Fin-Kedinn stocherte in der Glut.
Als er nicht weitersprach, nahm Torak all seinen Mut zusammen. »Das sind nur fünf. Du hast doch gesagt… es seien sieben gewesen.«
Fin-Kedinn ging nicht darauf ein. »Vor vielen Wintern schlossen sie sich heimlich zusammen. Zuerst nannten sie sich ›die Heiler‹. Sie redeten sich ein, sie wollten nur Gutes tun, Krankheiten heilen und andere Menschen vor Dämonen schützen.« Sein Mund zuckte verächtlich. »Doch bald schon wurden sie von ihrer Machtgier zum Bösen verleitet.«
Torak umklammerte gespannt sein Knie. »Warum nennt man sie denn Seelenesser? Haben sie wirklich Seelen gegessen?«
»Wer weiß? Die Menschen hatten Angst vor ihnen und wenn man Angst hat, verwandeln sich Gerüchte in Wahrheit.« Fin-Kedinns Gesicht nahm einen entrückten Ausdruck an. »Die Seelenesser gierten vor allem nach Macht. Das war ihr einziges Ziel. Sie wollten den Wald beherrschen, wollten seine Bewohner zwingen, ihnen zu Willen zu sein. Aber dann, vor dreizehn Wintern, geschah etwas, das ihre Herrschaft erschütterte.«
»Was?«, flüsterte Torak. »Was geschah damals?«
Fin-Kedinn seufzte. »Es genügt, wenn du weißt, dass es ein großes Feuer gab und die Seelenesser in alle Winde zerstreut wurden. Manche wurden schwer verwundet und alle gingen fort und versteckten sich. Wir glaubten, die Bedrohung sei ein für alle Mal vorbei, aber wir haben uns geirrt.« Er zerbrach den Ast und warf ihn ins Feuer. »Der Mann, den du den verkrüppelten Wanderer nennst … jener Mann, der den Bären erschuf … er war einer von ihnen.«
»Ein Seelenesser ?«
»Ich wusste es sofort, als mir Hord von ihm erzählte. Nur ein Seelenesser kann einen derart mächtigen Dämon bannen.« Er sah Torak tief in die Augen. »Dein Vater war sein Feind. Er war der Todfeind aller Seelenesser.«
Torak konnte sich nicht vom Blick der blauen Augen losreißen. »Davon hat er mir nie etwas erzählt.«
»Er hatte seine Gründe. Dein Vater … dein Vater hat in seinem Leben viel falsch gemacht. Aber er tat alles, was in seiner Macht stand, um die Seelenesser zu bekämpfen. Deshalb haben sie ihn getötet. Das war auch der Grund, weshalb er dich fern von anderen Menschen aufgezogen hat. Damit sie nie erfahren, dass es dich gibt.«
Torak sah ihn groß an. »Mich? Warum denn?«
Fin-Kedinn hörte nicht hin und blickte sinnend ins Feuer. »Es ist wirklich unglaublich«, murmelte er. »Niemand wäre darauf gekommen, dass er einen Sohn hat. Nicht mal ich.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Torak. »Warum dürfen die Seelenesser nicht erfahren, dass es mich gibt? Stimmt etwas nicht mit mir?«
Fin-Kedinn musterte ihn aufmerksam.
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