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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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wollte nicht einmal daran denken, geschweige denn über das Grauen sprechen, das ihn seit einem Jahr verfolgte. Dennoch wandte er langsam den Kopf und sah auf das schmale Gesicht hinab, das an seiner Schulter lehnte. Er fragte sich, warum er ausgerechnet sie ausgewählt hatte. Sie war sehr hübsch – in einigen Jahren würde sie selbst im Vergleich zu Meruhe eine wahre Schönheit sein –, aber so zart und zerbrechlich, dass er sich besorgt fragte, ob er vorsichtig genug mit ihr gewesen war.
    »Meiner Großmutter ging es genauso«, fuhr sie fort, offenbar nach wie vor fest entschlossen, ihm zu helfen, ob er es nun wollte oder nicht. »Sie hatte oft schlimme Träume. Manchmal hat sie darüber gesprochen, und das hat ihr geholfen.«
    Ihre Naivität rührte ihn. Zu wissen, dass sich jemand um ihn sorgte, tat ihm gut. Er streichelte mit den Fingerspitzen über ihre Wange und zog die Hand dann fast erschrocken wieder zurück, als er in ihren Augen las, dass sie die Berührung falsch verstand.
    »Diese Art von Traum ist es nicht«, sagte er. Etwas in ihrem Gesicht … irritierte ihn, ohne dass er genau sagen konnte, was. Sein schlechtes Gewissen meldete sich erneut, als er begriff, dass er sich nicht einmal an ihren Namen erinnerte. Vielleicht hatte er auch nie danach gefragt.
    »Wer ist Marius?«, fragte sie.
    »Marius? Habe ich …?«
    »Im Schlaf gesprochen?« Sie nickte. »Ja, aber macht Euch keine Sorgen, gnädiger Herr. Ich konnte nichts verstehen, nur diesen Namen.«
    Das mochte wahr sein oder auch nicht. Und letzten Endes konnte es ihm auch gleich sein. Sie war ein Straßenmädchen, das sich für Geld feilbot und seinen Namen und sein Gesicht genauso schnell vergessen haben würde wie er umgekehrt sie. Und doch war es ihm nicht gleich. Aus einem Grund, den er nicht benennen konnte, war es ihm mit einem Mal ungeheuer wichtig, dass sie ihn verstand.
    »Er war mein Sohn«, sagte er leise.
    »War?«
    Andrej nickte. Er spürte, sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber die Worte wollten nicht kommen. Sie hatte recht: Schon der Entschluss, darüber zu reden, war eine Erleichterung, aber etwas zu beschließen und es in die Tat umzusetzen waren zwei verschiedene Dinge. Seine Stimmbänder versagten ihm einfach den Gehorsam.
    »Ich verstehe«, sagte sie. »Wenn Ihr nicht darüber reden wollt, dann ist das in Ordnung. Ich wollte Euch wirklich nicht bedrängen, gnädiger …«
    »Andrej«, unterbrach sie Andrej. »Hör auf, mich gnädiger Herr zu nennen. Mein Name ist Andrej.«
    »Wenn Ihr mich Corinna nennt.« Sie schien etwas in seinen Augen zu lesen, denn plötzlich lachte sie und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schwarzen Locken flogen und seine Wange kitzelten. »Zerbrecht Euch nicht den Kopf. Ihr habt meinen Namen nicht vergessen. Ihr habt gar nicht danach gefragt.«
    »Oh!«, murmelte Andrej. Warum erinnerte er sich nicht einmal daran?
    »Die meisten wollen ihn gar nicht wissen«, fuhr sie fort, kicherte und trank einen Schluck Wein, bevor sie hinzufügte: »Schon gar nicht, wenn sie so betrunken sind, wie Ihr es wart.«
    »Betrunken?«, wiederholte Andrej verwirrt.
    »Und wie!«, bestätigte Corinna. »Euer großer Freund und ich hatten Mühe, Euch die Treppe herauf und in dieses Zimmer zu bekommen.« Sie zog einen Schmollmund. »Wenn man es genau nimmt, habt Ihr mich getäuscht.«
    »Weil ich zu betrunken war, um deine Erwartungen zu erfüllen?«
    »Im Gegenteil«, antwortete sie. »Ich dachte, es wäre leicht verdientes Geld. Die meisten schlafen auf der Stelle ein, wenn sie so viel getrunken haben wie Ihr.«
    »Aber ich bin nicht eingeschlafen.«
    »Sagen wir, es war kein wirklich leicht verdientes Geld«, erwiderte Corinna. »Jedenfalls sind wir beide ins Schwitzen gekommen.«
    Sie trank einen weiteren Schluck Wein und sah ihn plötzlich nachdenklich an. »Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so schnell wieder nüchtern geworden wäre wie Ihr.«
    »Das liegt daran, dass Alkohol bei mir nur wirkt, wenn ich es zulasse«, antwortete Andrej. »Und auch nur so lange, wie ich es zulasse.«
    Das entsprach der Wahrheit, doch es war nicht verwunderlich, dass sie ihn nur noch verwirrter ansah (vielleicht auch ein bisschen erschrocken) und sich schließlich darin rettete, noch einen dritten und größeren Schluck Wein zu trinken, mit dem sie das Glas nahezu leerte.
    »Das ist schon eine verrückte Geschichte«, sagte sie. »So mancher Mann würde sich wünschen, so etwas zu können … aber wenn sie wahr

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