Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
erwürgen.«
»Aber Ihre Kraft… der Vampir…?« fragte der Junge. »Ich war völlig außer mir«, erklärte der Vampir, »und tat Dinge, die ich gesund nicht fertiggebracht hätte. Jetzt habe ich die Szene nur noch verworren und blaß in Erinnerung; doch ich weiß noch, daß ich den Priester zum Hinterausgang aus dem Haus und über den Hof jagte und daß ich seinen Kopf gegen die Mauer schlug, bis er fast tot war. Als man mich schließlich gebändigt hatte, zu Tode erschöpft, ließ man mich zur Ader. Diese Narren. Aber ich wollte etwas anderes sagen, nämlich, daß ich in diesem Augenblick meine eigene Überheblichkeit erkannte. Vielleicht hatte ich einen Widerschein davon in dem Priester gesehen. Seine verachtungsvolle Haltung meinem Bruder gegenüber spiegelte meine eigene; seine vorschnelle und oberflächliche Nörgelei an meinem Bruder, sein Unverständnis, daß Heiligkeit uns vielleicht so nahe gewesen war.«
»Aber er glaubte doch, daß Ihr Bruder vom Teufel besessen war.« »Das ist eine ziemlich weltliche Vorstellung«, entgegnete der Vampir sofort. »Leute, die nicht mehr an Gott oder an das Gute glauben können, glauben noch immer an den Teufel; ich weiß nicht, warum. Doch, ich weiß es. Das Böse ist immer möglich, das Gute ist unendlich schwieriger. Du mußt verstehen: zu sagen, einer sei vom Teufel besessen, ist nur eine andere Bezeichnung dafür, daß der Betreffende verrückt ist. Ich merkte, daß es für den Priester so war. Ich bin überzeugt, daß er es als Wahnsinn empfunden hatte. Vielleicht hat der Priester meinen Bruder für wahnsinnig gehalten und es Teufelsbesessenheit genannt. Man braucht ja den Teufel nicht zu sehen, wenn man ihn austreibt. Aber die Anwesenheit eines Heiligen zu erkennen… zu glauben, daß der Heilige eine Vision gehabt hat. Nein, es ist Überheblichkeit, nicht zu glauben, daß so etwas unter uns geschehen könne.«
»Ich habe es nie so gesehen«, sagte der Junge. »Aber was wurde aus Ihnen? Sie sagten, man hat sie zur Ader gelassen, um Sie zu kurieren, aber das muß Sie ja fast umgebracht haben.«
Der Vampir lachte. »Ja. Fast. Doch der Vampir kam in der Nacht zurück. Er wollte Pointe du Lac haben, weißt du, meine Plantage.
Es war sehr spät, und meine Schwester war an meinem Bett eingeschlafen. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen. Er kam vom Garten herein, öffnete lautlos die Glastür, ein großer, hellhäutiger Mann mit vollem blondem Haar und anmutigen, fast katzenhaften Bewegungen. Leise und unauffällig drehte er die Lampe hinunter und legte meiner Schwester ein Tuch über die Augen, und sie rührte sich nicht bis zum Morgen. Aber in der Zeit hatte ich mich sehr verändert.« »Wie war die Veränderung?« fragte der Junge. Der Vampir seufzte, lehnte sich im Stuhl zurück und blickte die Wand an. »Zuerst dachte ich, es sei ein anderer Arzt oder jemand, den die Familie gebeten hatte, mich zur Vernunft zu bringen. Doch ich merkte alsbald, daß es kein gewöhnlicher Mensch war. Er trat an mein Bett, beugte sich über mich, so daß die Lampe sein Gesicht erhellte, seine grauen Augen glühten, und die langen weißen Hände, die ihm an den Seiten herabhingen, waren nicht die eines menschlichen Wesens. Ich glaube, in diesem Augenblick wußte ich alles, und was er zu mir sagte, war nur die Bestätigung. Sobald ich ihn sah, seine ungewöhnliche Aura spürte und wußte, daß er keinem Wesen glich, das ich je gekannt hatte, schrumpfte ich zu nichts zusammen. Das Ich, das die Anwesenheit eines ungewöhnlichen menschlichen Wesens nicht hatte ertragen können, war zermalmt. Alle meine Vorstellungen, sogar mein Schuldbewußtsein und mein Wunsch zu sterben, schienen höchst unwichtig geworden. Ich vergaß mich völlig.« Der Vampir schlug sich mit der Faust an die Brust. »Ich vergaß mich ganz und gar. Und im gleichen Moment war mir die Bedeutung der Möglichkeiten völlig bewußt. Von diesem Augenblick an erlebte ich Wunder über Wunder. Als der Mann zu mir sprach und sagte, was ich werden könne und welcher Art sein Leben gewesen sei und bleiben würde, zerfiel meine Vergangenheit zu Asche. Ich sah mein Leben, als stünde ich daneben - die Eitelkeit, den Eigennutz, die ständige Flucht von einem nichtigen Verdruß zu einem anderen, der Lippendienst an der Jungfrau Maria und den zahllosen Heiligen, deren Namen meine Gebetbücher füllten und von denen nicht einer mein beschränktes, materialistisches und selbstsüchtiges Dasein zu ändern vermochte. Ich
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