Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
erkannte meine wahren Götter - die Götter der meisten Menschen. Essen, Trinken, Sicherheit in der Gleichförmigkeit. Asche, Asche…« Das Gesicht des Jungen zeigte Erstaunen und Verwirrung. »Und da haben Sie beschlossen, ein Vampir zu werden?« fragte er. Der Vampir schwieg für einen Moment.
»Beschlossen - es scheint mir nicht das rechte Wort. Zwar könnte ich nicht sagen, es sei zwangsläufig gewesen, von dem Augenblick an, da er ins Zimmer trat. Nein, es war nicht zwangsläufig. Aber ich kann auch nicht sagen, daß ich es beschlossen habe. Laß es mich so ausdrücken:
Als er zu Ende gesprochen hatte, gab es für mich keine andere Entscheidung, und ich ging meinen Weg ohne einen Blick zurück. Mit einer Ausnahme.«
»Und die war?«
»Mein letzter Sonnenaufgang«, sagte der Vampir. »… An jenem Morgen war ich noch kein Vampir. Und ich sah zum letzten Mal die Sonne aufgehen.
Ich weiß es noch ganz deutlich; an keinen Sonnenaufgang zuvor kann ich mich so erinnern. Das Licht kam zuerst durch die obersten Scheiben der Glastüren, ein blasser Schein hinter den Spitzenvorhängen, und dann wurden die Flecken zwischen den Blättern der Bäume heller und heller. Schließlich leuchtete die Sonne voll durch die Fenster, und die Spitzen warfen ein Schattenmuster auf den Steinfußboden und den tuchumhüllten Kopf und die Schultern meiner Schwester, die noch immer neben meinem Bett schlief. Als sie die Wärme spürte, schob sie das Tuch fort, ohne zu erwachen, und dann schien ihr die Sonne auf die Augen, und sie schloß die Lider. Dann schimmerte die Sonne auf dem Tisch, wo meine Schwester den Kopf auf die Arme gelegt hatte, und funkelte im Wasserkrug. Und ich fühlte sie auf meinen Händen, die auf der Bettdecke lagen, und dann in meinem Gesicht. Ich dachte über alles nach, was der Vampir mir erzählt hatte, und dann sagte ich dem Sonnenaufgang ›Lebe wohl!‹ und ging davon, ein Vampir zu werden. Es war… der letzte Sonnenaufgang.«
Der Vampir blickte wieder aus dem Fenster. Und als er schwieg, war es so unvermittelt, daß der Junge es zu hören glaubte. Dann konnte er die Geräusche der Straße vernehmen, ein Lastwagen machte einen ohrenbetäubenden Lärm, und die Schnur der Lampe zitterte von der Erschütterung. Dann war der Wagen vorübergefahren.
»Vermissen Sie ihn?« fragte der Junge dann mit schwacher Stimme. »Nicht eigentlich«, antwortete der Vampir. »Es gibt so viel anderes. Aber wo waren wir stehengeblieben?
Ja, du wolltest wissen, wie es vor sich ging, wie ich ein Vampir wurde.«
»Ja«, sagte der Junge. »Wie war es, als Sie sich verwandelten?« »Genau kann ich es nicht sagen«, sagte der Vampir. »Ich kann darüber sprechen, kann es mit Worten umkleiden, die dir offenkundig machen, was es für mich bedeutete. Aber ich kann es nicht genau berichten, ebensowenig wie ich dir die liebe schildern könnte, wenn du sie nicht selber erlebt hast.«
Dem Jungen schien noch eine weitere Frage einzufallen, doch ehe er sprechen konnte, fuhr der Vamp ir fort: »Wie ich dir schon sagte, hatte dieser Vampir, Lestat war sein Name, es auf die Plantage abgesehen. Ein sehr alltäglicher Grund, zweifellos, um mir ein Leben zu gewähren, das bis ans Ende aller Tage dauert; doch er war nicht sehr scharfsinnig. Er betrachtete die kleine Schar der Vampire auf dieser Welt nicht als einen exklusiven Klub, möchte ich sagen. Er hatte sehr menschliche Sorgen -einen blinden Vater, den er pflegen mußte und der nicht wußte und nicht erfahren durfte, daß sein Sohn ein Vampir war. Das Leben in New Orleans war ihm unter diesen Umständen zu schwierig geworden, und er wollte Pointe du Lac haben.
Am nächsten Abend fuhren wir sogleich zur Plantage hinaus, brachten den blinden Vater in einem Schlafzimmer unter, und ich bereitete mich auf die Verwandlung vor. Ich könnte nicht sagen, daß sie aus bestimmten Schritten bestand - obwohl es an einem gewissen Punkt natürlich keine Rückkehr mehr gab. Aber es waren verschiedene Dinge zu tun, und das erste war der Tod des Aufsehers. Lestat überwältigte ihn im Schlaf. Ich mußte zusehen und es gutheißen, das heißt, Zeuge sein, wie ein menschliches Leben ausgelöscht wird, als Beweis meiner Bindung und Teil meiner Verwandlung. Dies erwies sich als der schwierigste Punkt für mich. Wie ich dir schon sagte, hatte ich keine Furcht vor meinem eigenen Tod, nur eine gewisse Scheu, mir selber das Leben zu nehmen; doch hatte ich die höchste Achtung vor dem Leben anderer, und seitdem mein
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