Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
Ich wußte, daß ich dir vergeben hatte. Und ich wußte mit jedem Atemzug und mit jeder neuen Farbe oder Form, die ich vor mir sah, daß ich haben wollte, was du mir geschenkt hattest - diese neue Sicht und dieses Leben, das keiner von uns wirklich beschreiben kann! Oh, ich konnte es nicht zugeben; ich mußte dich verfluchen, mich ein Weilchen gegen dich wehren. Aber mehr war es am Ende nicht: ein Weilchen.«
»Du bist viel klüger als ich«, sagte ich leise. »Natürlich. Was dachtest du denn?« Ich lächelte und lehnte mich zurück.
»Ah, das ist der Zauber der Finsternis«, flüsterte ich. »Wie recht sie hatten, die Alten, als sie es so nannten. Ich frage mich, ob der Zauber auf meine Kosten geht. Denn hier sitzt ein Vampir bei mir, ein Bluttrinker von enormer Macht, mein Kind - und was bedeuten ihm die alten Empfindungen jetzt noch?«
Ich sah ihn an, und wieder merkte ich, daß mir die Tränen in die Augen stiegen. Sie lassen mich nie im Stich.
Er runzelte die Stirn, und sein Mund war leicht geöffnet; es schien, als hätte ich ihm jetzt wirklich einen schrecklichen Schlag versetzt. Aber er sagte nichts. Er sah verwirrt aus, und dann schüttelte er leise den Kopf, als wisse er nichts zu erwidern.
Ich erkannte, daß es weniger Verwundbarkeit war, was ich jetzt in ihm sah, als vielmehr Mitgefühl und eine offenkundige Fürsorge für mich.
Er stand plötzlich auf, sank vor mir auf die Knie und legte mir die Hände auf die Schultern, ohne auf meinen treuen Mojo zu achten, der ihn mit gleichgültigem Blick musterte.
War ihm klar, daß ich Claudia in meinem Fiebertraum so angeschaut hatte?
»Du bist noch derselbe«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Genau derselbe.«
»Derselbe wie wer?«
»Oh, jedesmal, wenn du zu mir kamst, hast du mich angerührt, hast mir ein tiefes Beschützergefühl entrungen. Du hast mich Liebe fühlen lassen. Und jetzt ist es genauso. Nur daß du noch verlorener wirkst und mich noch nötiger brauchst. Ich muß dich voranbringen, das sehe ich ganz deutlich. Ich bin dein Bindeglied zur Zukunft. Durch mich wirst du die kommenden Jahre sehen.«
»Du bist auch noch derselbe. Absolut unschuldig. Ein verdammter Narr.« Ich wollte seine Hand von meiner Schulter streifen, aber es gelang mir nicht. »Du wirst dich in große Schwierigkeiten bringen. Warte nur ab.«
»Oh, wie aufregend. Aber jetzt komm, wir müssen nach Rio. Wir dürfen nichts vom Karneval versäumen. Obwohl wir natürlich nächstes Jahr wieder hingehen können… und wieder… und wieder… Aber komm jetzt.«
Ich saß ganz still da und sah ihn unverwandt an, bis er wieder ein besorgtes Gesicht machte. Seine Finger waren stark, und sie drückten meine Schultern. Ja, ich hatte meine Sache mit ihm in jeder Hinsicht gut gemacht.
»Was ist?« fragte er schüchtern. »Trauerst du um meinetwillen?«
»Vielleicht, ein bißchen. Wie du schon sagtest, ich bin nicht so klug wie du und erkenne nicht so genau, was ich will. Aber ich glaube, ich versuche, mir diesen Augenblick einzuprägen. Ich will mich immer daran erinnern - ich will mich daran erinnern, wie du jetzt bist, hier bei mir… bevor die Sache anfängt schiefzugehen.« Er stand auf und zog mich unvermittelt und ohne erkennbare Anstrengung auf die Beine. Mit sanft triumphierendem Lächeln sah er mein Erstaunen.
»Oh, das wird eine tolle Sache werden, diese kleine Balgerei«, sagte ich.
»Na, du kannst in Rio mit mir kämpfen, wenn wir auf der Straße tanzen.«
Er winkte mir, ihm zu folgen. Ich wußte nicht genau, was wir als nächstes tun und wie wir reisen würden, aber ich war wunderbar aufgeregt, und die Details des Unternehmens interessierten mich ehrlich nicht.
Natürlich würde man Louis überreden müssen mitzukommen, aber wir würden uns gegen ihn verbünden und ihn irgendwie locken, mochte er noch so widerstreben.
Ich wollte ihm nach draußen folgen, als mir etwas ins Auge fiel. Es lag auf Louis’ altem Schreibtisch.
Es war Claudias Medaillon. Die Kette lag zusammengerollt da, und das Licht fing sich in den zarten goldenen Gliedern; das ovale Gehäuse war aufgeklappt und an das Tintenfaß gelehnt, und das kleine Gesicht schien mich anzuschauen.
Ich nahm das Medaillon in die Hand und betrachtete das kleine Bild aus nächster Nähe. Und eine traurige Erkenntnis überkam mich.
Sie war keine reale Erinnerung mehr. Sie war zu einem Fiebertraum geworden. Sie war das Trugbild in dem Urwaldhospital, eine Gestalt, die in Georgetown vor der Sonne stand, ein Geist,
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