Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
die sich steil und gefährlich schmal um die Klippen wand.
»Ich halte das nicht aus!« schrie ich laut, doch die Worte wurden mir vom Munde fortgerissen. Wieder griff ich mit der Rechten in meine Jacke, tastete nach der Erhebung, die der Schleier darunter bildete, dann tastete ich an der zerfressenen, bröckelnden Wand entlang. Waren das Gravuren im Gestein? Hatten schon andere Hände versucht, sich an dieser Stelle festzuklammern oder emporzuklettern? Dieses durchdringende Schreien und Wimmern raubte mir den Verstand. Doch schon hatten wir ein weiteres Tal erreicht.
Oder war es etwa eine eigene Welt, in ihrer Eigenständigkeit ebenso weitläufig und vielschichtig wie der Himmel? Denn auch hier gab es Myriaden von Palästen und hochragenden Türmen und Bogengängen in gedämpften Farben, dunkle Braun- und Ockerabstufungen und brünierte oder sogar schwarz angelaufene Goldtöne. Alle Räume waren bevölkert mit Geistern jeden Alters und jeder Nation, die in Gespräche, Auseinandersetzungen, Streit oder Gesänge vertiert waren. Einige umarmten sich sogar, als hätten sie im Angesicht all des Wehklagens freundschaftliche Bande geknüpft. Da gab es Söldner in den Uniformen gegenwärtiger oder längst vergangener Kriege. Frauen waren in den formlosschwarzen Umhang des Heiligen Landes gehüllt, und die Seelen unserer heutigen Zeit trugen schicke Konfektionskleidung, die nun von Staub und Ruß befleckt war, so daß die glänzenden Stoffe matt wirkten, als könne keine Farbe ihrer unheilvollen Herrlichkeit Glanz verleihen. Und alle Seelen weinten und tätschelten einander die Wangen oder nickten verständnisvoll, wenn sie mit zusammengeballten Fäusten ihren Grimm herausschrien.
Seelen in zerlumpten Mönchskutten von unansehnlichem Braun, Nonnen mit noch frisch gestärktem Habit, Fürsten mit samtenen Puffärmeln und Nackte, die sich bewegten, als hätten sie nie Kleidung gekannt. Schwere Baumwollkleider und alte Spitze, neumodische gleißende Seide und hauchdünne oder dichtgesponnene Kunstfasern, der olivgrüne Rock des Soldaten oder auch schimmernde bronzene Rüstungen. Bauerntuniken aus grobem Tuch, elegante wollene Maßanzüge in der heutigen Mode und Silberlame-Abendroben. Und alle Haarfarben der Welt wehten und mischten sich im Wind. Die Gesichter zeigten den Teint aller Rassen. Alte Leute knieten mit gefalteten Händen, beugten ihre kahlen Köpfe mit den weichen rosigen Runzeln im Nacken. Dort die dünnen weißen Seelenformen derer, die in ihrem Leben hungern mußten, sie schlürften mit dem Mund aus den dahinströmenden Bächen, wie es Hunde tun; und dort andere, sie lagen ausgestreckt auf dem Rücken, mit halbgeschlossenen Augen, um die Felsen und knorrigen Bäume nicht sehen zu müssen, und sangen, träumten vor sich hin oder beteten.
Mit jeder Sekunde gewöhnten sich meine Augen mehr an dieses trübe Dämmerlicht, und mehr und mehr Einzelheiten fielen mir auf. Jeder Quadratmeter brachte mir neue klärende Einsichten in das, was ich da vor mir sah! Denn um jede echte Seele scharten sich Dutzende von Gestalten, tanzend, singend, jammernd, die nichts anderes als Bilder waren, Projektionen, die der jeweiligen Seele entsprangen, dazu bestimmt, mit ihr Zwiegespräch zu halten.
Die grausigen Umrisse einer in Flammen stehenden Frau waren nicht mehr als eine Schimäre für jene aufheulenden Seelen, die sich ins Feuer stürzten, um sie vom Pflock zu befreien, die Flammen auszutreten, die schon nach ihrem Haar züngelten. Die Frau zu retten aus dieser unsäglichen Todesqual! Es war der Hexenplatz! Und alle brannten sie! Rettet sie! O Gott, ihr Haar steht in Flammen!
Tatsächlich waren auch die Soldaten, die da ihre Kanonen luden und sich schon die Ohren verstopften, nichts als eine Illusion, gedacht für die Legionen echter Seelen, die dort weinend auf den Knien lagen. Auch ein riesiger Klotz von Mann, der eine Axt schwang, war nur ein Phantom für die, die mit Bestürzung auf ihn starrten, da sie in ihm sich selbst erkannten.
»Ich kann’s nicht … ich kann nicht hinsehen!«
Monströse Bilder von Mord und Folter blitzten brennendheiß vor meinen Augen auf. Phantome wurden zu einem Tod in Kesseln mit kochendem Pech gezerrt. Söldner sanken mit aufgerissenen Augen auf die Knie, der Fürst eines längst vergangenen persischen Reiches stieß einen schrillen Schrei aus und sprang mit weit ausgebreiteten Armen hoch in die Luft, die schwarzen Augen blitzten von reflektiertem Feuer.
Das Wehklagen, das Geflüster
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