Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
uraltes Webmuster! Ohne selbst einen Blick darauf zu werfen, zog ich den Schleier hervor und hielt ihn auseinandergefaltet in die Höhe wie Veronika, als sie ihn dem Volk zeigte.
Stille. Bewegungslosigkeit.
Dann sah ich Armand auf die Knie fallen. Und Dora stieß einen langen, spitzen Schrei aus.
»Lieber Gott«, sagte David.
Mit zitternden Fingern senkte ich das weit ausgebreitete Tuch, das ich immer noch mit beiden Händen hielt, und indem ich es zum Fenster drehte, konnte ich nun seine Spiegelung in der dunklen Scheibe vor dem Schnee im Hintergrund sehen. Ich brachte es nicht fertig, direkt darauf zu schauen, als sei es die Gorgone, deren Anblick tödlich ist.
Sein Antlitz! Sein Antlitz in das Tuch eingebrannt. Nun schaute ich hin. Der lebendige Gott fixierte mich, in jeder kleinsten Einzelheit auf dieses Tuch gebannt, nicht gemalt, getupft, gestickt oder gezeichnet, nein, tief in die Fasern eingebrannt. Sein Antlitz, das Antlitz Gottes, festgehalten in diesem einen Augenblick, blutüberströmt, wie es war, durch seine Dornenkrone.
»Ja«, hauchte ich. »Ja, so war es.« Auch ich sank auf die Knie. »Oh, ja, absolut vollkommen bis ins winzigste Detail.«
Ich merkte, daß Dora mir den Schleier abnahm. Wenn das David oder Armand versucht hätten, ich hätte ihn ihnen auf der Stelle entrissen. Doch Doras zarten Händen vertraute ich ihn an, und nun hob sie ihn empor und zeigte ihn ringsum, so daß wir alle Seine dunklen Augen aus dem Tuch hervorleuchten sahen!
»Es ist Gott!« schrie sie. »Es ist das Schweißtuch der Veronika!« Ihre Stimme steigerte sich von Triumph zu Freudenschreien. »Vater, du hast es geschafft. Du hast mir das Schweißtuch geschenkt!«
Und sie verfiel in ein Lachen wie jemand, dem alle Visionen zuteil geworden sind, die man nur ertragen kann, und tanzte im Kreis durch den Raum, den Schleier hoch in den Händen, dabei sang sie immer nur ein und dasselbe Wort.
Armand war niedergeschmettert, gebrochen, lag auf den Knien, und blutige Tränen rannen ihm über die Wangen, bildeten grausige Streifen auf dem Weiß seiner Haut.
Ergeben und bestürzt saß David einfach da und beobachtete. Mit konzentrierten Blicken prüfte er das wehende Tuch, das Dora immer noch mit ausgestreckten Armen hochhielt. Intensiv prüfte er meinen Gesichtsausdruck und die zusammengesunkene, weinende Gestalt Armands, dieses verlorenen Kindes in seinem exquisiten Samt- und Spitzenanzug, der nun von blutigen Tränen befleckt war.
»Lestat«, rief Dora aus, und ihre Tränen strömten, »du hast mir das Antlitz meines Gottes gebracht! Uns allen hast du es geschenkt. Versteh doch! Memnoch hat verloren! Memnoch ist geschlagen. Gott ist Sieger! Gott hat Memnoch für Seine eigenen Zwecke benutzt. Er verstrickte Memnoch ins Labyrinth seiner Pläne. Gott triumphiert!«
»Nein, Dora, nein! Das kannst du nicht glauben«, brüllte ich. »Und wenn das gar nicht die Wahrheit ist? Wenn das alles nur Lug und Trug ist? Dora!«
Sie schoß an mir vorbei, rannte den Flur entlang und zur Tür hinaus. Wir drei standen wie erstarrt. Wir hörten den Lift losfahren. Sie hatte das Schweißtuch!
»David, was wird sie tun? David, hilf mir.«
»Wer kann uns jetzt noch helfen?« fragte David, halbherzig, aber ohne Bitterkeit, nur mit dieser Nachdenklichkeit, seinen ewigen gründlichen Erwägungen. »Armand, reiß dich zusammen. Du kannst dich dem nicht hingeben«, sagte er. Seine Stimme klang betrübt.
Doch Armand war verloren. »Warum?« fragte er; er war nur noch ein Kind, ein demütig kniendes Kind. »Warum?«
So mußte er ausgesehen haben, als Marius ihn vor Jahrhunderten aus seinem venezianischen Gefängnis befreite, wo man ihn als Lustknaben hielt - ein Knabe nur, den er in den Palast des Untoten mitnahm.
»Warum soll ich nicht daran glauben? Oh, mein Gott, ich glaube es! Es ist das Antlitz Christi!« Er rappelte sich hoch, wie trunken, und dann ging er langsam, schwerfällig, Schritt für Schritt ihr nach.
Als wir die Straße erreichten, stand Dora schon vor den Portalen der Kathedrale und rief laut: »Macht die Türen auf! Schließt die Kirche auf! Ich habe das Schweißtuch!« Sie trat mit dem rechten Fuß gegen die bronzene Tür. Rund um sie versammelten sich Sterbliche, murmelten vor sich hin.
»Das Schweißtuch, das Schweißtuch!« Sie starrten es an, als sie sich zu ihnen umwandte und es abermals in die Höhe hielt. Dann hämmerten alle gemeinsam gegen das Portal.
Der Himmel über ihnen zeigte eine Spur Helligkeit,
Weitere Kostenlose Bücher