Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Lestat einen liebevollen KUSS gab, ganz wie in der Nacht zuvor. Ich kümmerte mich um niemanden, wusste nicht einmal, wer noch hier war.
Ich nahm Marius beim Wort und machte mich im violetten Abenddunst auf den Weg zu ihm. Vertrauensvoll ließ ich die Augen über die Blüten gleiten und lauschte dabei den Klängen der Sonate, denn Sybelles Spiel führte mich direkt zum richtigen Haus. Sie spielte ihr Stück mit ungewöhnlicher, hell klingender Präzision, die mir sofort gefiel. Also hatte ich mein kleines Mädchen nicht zu Tode erschreckt. Sie war gesund, ihr ging es gut, und vielleicht war sie gerade dabei, sich in New Orleans und seine schläfrige, feuchte Schönheit zu verlieben.
Ich beeilte mich, das Haus zu erreichen, und stand schließlich windzerzaust vor einem dreistöckigen Ziegelgebäude in Metairie, einem Vorort von New Orleans, der zwar nahe an der Innenstadt liegt, einem aber ein Gefühl vermittelt, wunderbar weit entfernt zu sein. Die riesigen Eichen, von denen Marius gesprochen hatte, umgaben die ganze, neue, typisch amerikanische Villa, und, wie versprochen, hatte er alle seine schimmernd sauberen, französischen Fenster weit der Abendbrise geöffnet. Unter meinen Füßen spürte ich das lange, weiche Gras und glänzendes Licht, das Marius so liebte, fiel aus allen Fenstern, zusammen mit den Tönen der Appassionata, die sich gerade anmutig in den zweiten Satz aufschwangen.
Ich blieb stehen und lauschte. Nie zuvor hatten die Töne so durchscheinend und zart geklungen, glanzvoll und erlesen. Aus reinem Vergnügen versuchte ich, mir die unterschiedlichen Versionen zu vergegenwärtigen, die ich bisher von ihr gehört hatte. Sie waren stets anders, zauberhaft und zutiefst anrührend, aber diese hier war spektakulär, und der Klangraum eines herrlichen, großen Flügels unterstützte die Variation noch.
Einen Augenblick lang überschwemmte mich Trauer, die schreckliche Erinnerung an die Nacht zuvor. Wie man so naiv sagt, erlebte ich alles noch einmal, doch dann wurde mir mit einem freudigen Schock klar, dass ich ja gar nichts zu erzählen brauchte, denn David hatte alles aufgeschrieben und ich konnte die Kopien, die er mir machen wollte, jedem meiner Lieben anvertrauen.
Was mich betraf, ich wollte nicht mehr nach einer Lösung suchen. Ich konnte es nicht. Was ich gesehen hatte, hatte meine Gefühlswelt bis zum Äußersten belastet. War Er nun wirklich oder ein Trugbild der schuldgeplagten Seele? Hatte Er mich nicht sehen wollen und mich wie ein Ungeheuer von sich gestoßen? Das Gefühl, zurückgewiesen worden zu sein, war so umfassend, dass ich mich fragte, wie ich es David hatte beschreiben können.
Ich musste diese Gedanken loswerden, ich durfte diese Erfahrung nicht ständig in mir widerhallen lassen. Ich ließ mich wieder in Sybelles Spiel sinken, blieb still unter den Eichen stehen. Die immer währende leichte Brise vom Fluss her verschaffte mir sanfte Kühlung. Sie ließ mich spüren, dass die Erde doch mit unvergänglicher Schönheit gesegnet war, selbst für ein Wesen wie mich.
Der dritte Satz erhob sich zu einem unnachahmlich glänzenden Höhepunkt, und ich dachte, mir würde das Herz brechen. Erst als die letzten Töne verklangen, fiel mir etwas auf, das ich schon längst hätte merken müssen. Das war nicht Sybelle, die da spielte. Das konnte nicht sein. Ich kannte jede Nuance ihrer verschiedenen Interpretationen, ich wusste genau, wie die Töne klangen, die sie dem Klavier entlockte. Obwohl sie spontan variierte, wusste ich doch, wie sie zu Werke ging, so wie man am Stil des Schreibens den Schreibenden erkennt. Das war nicht sie selbst.
Und dann dämmerte mir die Wahrheit, Es war Sybelle, aber sie war nicht länger Sybelle.
Eine Sekunde lang konnte ich es nicht glauben. Mir blieb das Herz in der Brust stehen. Dann marschierte ich ins Haus, mit gleichmäßig hartem Schritt.
Und dann sah ich es mit eigenen Augen. Alle waren sie in diesem herrlich ausgestatteten Raum versammelt - Pandora in einem langen Kleid aus brauner Seide, gegürtet wie einst im alten Griechenland, Marius in Samt und Seide, und meine Kinder, meine wunderschönen Kinder, der strahlende Benji tanzte in einem weißen Gewand barfuß durchs Zimmer und schwang in wilder Euphorie die Hände, als wolle er die reine Luft umfangen. Und Sybelle, meine herrliche Sybelle, in einem tierrosafarbenen Seidenkleid, die Arme unbedeckt, saß am Flügel, das lange Haar über die Schultern zurückgeworfen. Sie stürzte sich gerade wieder
Weitere Kostenlose Bücher