Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
»Ich habe sie gesehen, wie sie Medwel überfielen! Bewaffnete Männer, wie Wulf sagte, alle gleich angezogen. Ihre Schilde hatten silberne Buckel.« Er brach ab. Er konnte nicht beschreiben, wie die Angreifer die Menschen, die ihnen im Weg standen, so ungerührt niedergemäht hatten, wie ein Junge, der auf die Weizenhalme eines Feldes eindrischt. Auch nicht, wie er selbst zugeschlagen und sich daran geweidet hatte, wie die stählerne Klinge durch die Luft sauste und sich durch den Knochen fraß.
Sowohl Aagard wie Elsa starrten ihn jetzt an.
»Aber wie kann das sein?«, fragte Elsa.
Aagard brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Mit versteinertem Gesicht wartete er darauf, dass Adrian fortfuhr. Sein Blick war unverwandt auf den Jungen gerichtet.
»Ich hatte in der Höhle einen Traum«, sagte Adrian stockend. »Als wir gestern durch Medwel kamen, wusste ich, dass es sich um denselben Ort handelte, aber alles war so ruhig und friedlich. Ich erzählte niemandem von dem Traum. Ich dachte, niemand würde mir glauben.«
»Ich hätte dir geglaubt, Adrian«, sagte Aagard leise. »Hast du von silbernen Buckeln auf den Schilden der Männer gesprochen?« Adrian nickte und der Alte runzelte die Stirn. »Ich kenne nur einen Menschen, der ein solches Schildzeichen benützt. Orgrim.«
Adrian sah ihn verwirrt an. »Aber warum sollte er Männer ausschicken, die Medwel niederbrennen?«
Statt zu antworten, zuckte Aagard zusammen und erstarrte. Dann hob er die Arme vor das Gesicht. »Er versucht, durch meine Augen zu sehen!«, schrie er. »Macht beide die Augen zu, schnell!«
Adrian gehorchte. Die Angst in der Stimme des Alten ließ ihm das Mark in den Knochen erstarren.
»Sagte ich nicht, er sei ein Dunkelauge?«, brummte Aagard. »Ich habe gespürt, wie er durch meine Augen blickte – um zu sehen, wer mich begleitet, wer den Schiffbruch überlebt hat.«
Adrian starrte ins Leere. Seine Gedanken rasten. Stahl Orgrim sich etwa in diesem Moment auch in sein Bewusstsein? Woran merkte Aagard es?
Doch dann spürte er es auch. Irgendetwas drängte sich in seinen Kopf, als würde sein Bewusstsein beiseitegeschoben. Im nächsten Augenblick war der Druck wieder verschwunden, doch er spürte immer noch etwas, eine Leere, wie ein Loch in seinen Gedanken. Vorsichtig befühlte er die Stelle, wie einen lockeren Zahn.
Und dann brach eisig wie ein Schneesturm der Bewusstseinsstrom eines anderen über ihn herein. Er spürte Skrupellosigkeit, den Willen, etwas zu packen, zu benutzen und dann wegzuwerfen. Das fremde Bewusstsein schwoll an und drohte seinen ganzen Kopf aufzufüllen. Adrian wehrte sich, aber ihm war, als kämpfe er gegen Nebel. Seine eigenen Gedanken wurden immer schwächer und glichen zuletzt Wolkenfetzen, die über einen stürmischen Himmel getrieben wurden.
Entsetzt und zugleich seltsam unbeteiligt stellte er fest, dass er sich auflöste.
7. KAPITEL
Er bemerkte Aagards beruhigende Hand auf seiner rechten Schulter.
»Du spürst ihn also.« Die Stimme des Alten schien von weit weg zu kommen. »Er kann dir nichts befehlen und dich auch nicht hören, Adrian. Verschließe dein Bewusstsein gegen ihn!«
Adrian versuchte wieder, sich gegen das fremde Bewusstsein zu wehren. Wie konnte er es zurückdrängen? Vielleicht wenn er die Stelle fand, durch die es in ihn eindrang …
Ja. Dort spürte er eine Lücke in der glatten, gekrümmten Wand seines Bewusstseins, und etwas wie Rauch strömte hindurch. Unter Aufbietung seiner letzten Willenskraft versuchte er, sie zu verschließen.
Langsam zog sich das andere Bewusstsein zurück. Schließlich spürte Adrian nur noch eine Art Tücke oder Häme, die besagte, dass der Eindringling sich jetzt zwar zurückzog, aber womöglich schon bald wiederkehren würde. Dann ging auch das vorüber und die Lücke in Adrians Bewusstsein schloss sich.
Er sank gegen die Palisaden. Aagards Hand lag immer noch auf seiner Schulter. Elsa sah die beiden fragend an.
»Was ist?«, wollte sie wissen.
»Orgrim hat versucht, durch Adrians Augen zu sehen«, sagte Aagard. Die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer denn je. »Zuerst hat er meine Augen benützt. Er hat das schon so oft gemacht, dass ich genau weiß, wie sein Bewusstsein sich anfühlt. Doch dann machte ich die Augen zu und er versuchte es bei Adrian, wahrscheinlich weil Adrian noch so jung ist und er glaubte, ihn leichter überwältigen zu können.«
»Aber warum denn?«, fragte Elsa ratlos. Der Gedanke, jemand anders könnte sich in
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