Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
nickte ein weiterer Gast Aagard zu, ein Mann unbestimmten Alters mit scharfen Gesichtszügen und von gedrungener Gestalt. Der Mann trug Reisekleider. Er musterte Adrian und Elsa mit einem gleichgültigen Blick, doch hatte Adrian das Gefühl, dass er in ihm las wie in einem offenen Buch, als stünden ihm seine Vorfahren, seine Vergangenheit und seine Zukunft ins Gesicht geschrieben.
Aagard blieb stehen und begrüßte sofort den Fremden. »Schön, dich zu sehen, Cluaran«, sagte er. Er klang freundlich, doch meinte Adrian, aus seiner Stimme eine gewisse Zurückhaltung herauszuhören. »Ich habe mich schon gefragt, ob du vielleicht hier bist.« Er wandte sich an Elsa und Adrian. »Das ist Cluaran. Er …«
»Ich bin ein Reisender und handle mit altem Trödel«, fiel der Mann ihm ins Wort. Er hatte eine helle, melodische Stimme und sprach mit einem singenden Akzent, den Adrian noch nie gehört hatte. »Ich sammle alle möglichen Lieder und Geschichten und gebe sie im Austausch für ein Abendessen weiter. Es ist mir eine Ehre, euch kennenzulernen, meine Dame, mein Herr.« Er verbeugte sich, doch Adrian bemerkte in seinen graugrünen Augen ein spöttisches Funkeln.
»Cluaran ist ein ganz vortrefflicher Spielmann und Sänger«, sagte ihre Gastgeberin und stellte zwei Teller mit Gerstensuppe vor sie hin. »Er besucht uns jedes Jahr mit seinen Liedern und den Neuigkeiten des gesamten Königreichs. Ihr seid genau zur richtigen Zeit gekommen. Heute Abend wird es lustig zugehen!«
Adrian kannte solche Abendessen vom Hof seines Vaters, doch musste er zugeben, dass Gilbert ein großzügiger Gastgeber war. Er sah, wie Elsa beim Anblick der mit Fleisch und Brot vollgehäuften Platten die Augen aufriss und stumm nickte, als eine Sklavin mit einer Weinkaraffe zu ihr trat.
»Pass auf!«, warnte Adrian sie, als sie den Becher zum Mund hob. »Das ist starkes Zeug, wenn du es noch nie getrunken hast – nicht wie Dünnbier.« Doch seine Warnung kam zu spät, Elsa hatte bereits einen großen Schluck genommen. Sie hustete und ließ den Becher fallen. Die goldfarbene Flüssigkeit spritzte über den Tisch. Die beiden Handel treibenden Brüder gegenüber wichen in übertriebenem Schrecken zurück.
»Du musst doch nicht gleich alles wegschütten, wenn du es nicht magst, Mädchen!«, rief der eine und sein Bruder kicherte.
Elsa lief knallrot an und starrte auf den Tisch. Adrian winkte dem nächsten Sklavenmädchen. Während es den verschütteten Wein aufwischte, starrte er die feixenden Männer an, wie sein Vater einst einen Boten mit schlechten Manieren angestarrt hatte. Zwar hatte sein Blick nicht ganz die vernichtende Wirkung, die er in Erinnerung hatte, aber die beiden Brüder musterten ihn unbehaglich und wandten sich wieder ihrem Essen zu.
»Danke für die Warnung«, flüsterte Elsa mit einer Grimasse. Die Sklavin hatte sich entfernt. »Wer sind denn deine Eltern, dass du schon einmal Wein getrunken hast? Die Leute, die ich kenne, trinken alle nur Bier und Milch.«
Der Sänger Cluaran bewahrte Adrian davor, die Frage beantworten zu müssen. Er nahm seine Harfe zur Hand und begann zu spielen und an den Tischen kehrte Ruhe ein. Er spielte zuerst einen lebhaften Kanon, bei dem alle mitklatschten und -sangen, dann die traurige »Klage des Wanderers«.
Später, als die Sklaven die leeren Teller abräumten, sang und erzählte er die Geschichte der »Beute von Annwvyn«. Adrian hatte sie schon oft von seiner Mutter gehört, doch die seltsam weiche Stimme des Mannes fesselte ihn. Sogar Elsa musste lächeln, als der Sänger von dem Riesen sang, der mit einem Berg verwechselt wurde, und von der Suche nach einem Kessel, der Tote zum Leben erweckte. Gilbert spendete lärmend Beifall und ließ dem Sänger noch mehr warm gemachtes Bier bringen.
Endlich legte der Sänger unter den enttäuschten Rufen der anderen die Harfe weg. Adrian betrachtete ihn neugierig. Er war zweifellos beliebt, doch ging niemand zu ihm, um ihm zu danken, und umgekehrt suchte auch er nicht die Gesellschaft der anderen. Allein saß er auf einem umgedrehten Fass am Ende des Tisches und trank schweigend sein Bier. Nur Aagard wechselte etwas später einige Worte mit ihm.
»Ist Cluaran Euer Freund?«, fragte Adrian ihn, als Aagard zu ihnen zurückkehrte.
Aagard antwortete erst nach einer Weile. Er schien seine Worte sorgfältig zu wählen. »Cluaran hat mir in der Vergangenheit geholfen«, sagte er. »Wie auch ich ihm, glaube ich. In Zeiten der Not kann er ein guter
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