Chroniken der Jägerin 3
den Schultern. »Menschen, die hierherkommen, haben Probleme. Sucht, psychische Störungen, Wut. Ich … ermahne sie ein wenig.«
»Du veränderst sie.«
»Ich helfe ihnen.«
»Sind sie noch immer die Gleichen, wenn du mit ihnen fertig bist?«
»Ja.« Er sah mich an. »Meistens.«
»Du lässt dir ja ganz schön Spielraum.«
»Jemand, der seine Frau verprügelt, ist allerdings nicht mehr der Gleiche, wenn ich mit ihm fertig bin«, gab er zu. »Aber ein Roboter wird er auch nicht sein. Ich ergreife keinen Besitz von Menschen, Maxine.«
»Aber du spielst Gott. Ein bisschen wenigstens.«
Grant zögerte. »Das tust du auch.«
Ich sagte nichts. Ich war ein bisschen angepiekst. Und ich war auch hungrig nach mehr. Eine Unterhaltung wie diese hatte ich in… na ja, schon länger, als ich überhaupt denken konnte… nicht mehr geführt. Was anscheinend nicht viel bedeutete.
Aber ich war gierig nach Worten. Gieriger, als ich sein sollte.
Ich war nie zur Schule gegangen. Kinder meines Alters hatte ich immer nur aus der Ferne gesehen, und selbst wenn ich ganz nah bei ihnen gewesen war, waren sie dennoch Millionen Kilometer weit entfernt geblieben. Als Jugendliche sagte ich Hallo zu einigen Jungen, aber immer nur im Vorbeigehen: im Gang einer Bibliothek oder in einem Supermarkt, wenn meine Mutter und ich mal in eine Stadt fuhren, um unsere Lebensmittelvorräte aufzufüllen. Wir blieben nie lange genug an einem Ort, um mehr als bloß Hallo zu sagen. Selbst wenn es so gewesen wäre, hätte meine Mutter das nie zugelassen. Wir hatten zu viele Geheimnisse. Und sie musste zu viele Dämonen töten. Aber ich las viel. Die Welt lernte ich aus Büchern, dem Fernsehen und aus eigener Anschauung kennen. Ich war mir sicher, dass es Kinder gab, denen es schlechter ging als mir, sogar viel schlechter. Ich wusste immer, dass ich geliebt wurde. Ich wurde immer beschützt.
Aber das Zusammensein mit Grant, hier und jetzt, machte mir auf einmal klar, wie viel ich doch versäumt hatte, und wie sehr ich wohl noch immer wenigstens so etwas Ähnliches wie ein normales Leben führen wollte. Ein gutes, einfaches Leben.
Klar doch. Jetzt war ich wohl diejenige, die verrückt geworden war.
Grant humpelte an der Kellertür vorbei. Ich starrte auf seinen Rücken. »Wo gehst du hin?«
Er blickte über die Schulter zurück, antwortete aber nicht. Ich versuchte den Jungs auf meiner Haut zuzuhören und spannte meine Hände an. Aber sie waren still. Keine Gefahr in Sicht. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick.
Grant führte mich zu einem Büro, in dem kaum Möbel standen. Nur ein Tisch und ein paar Stühle. Es gab dort kein Telefon. Aber ein gerahmtes Bild, das etwa die Größe meiner Hand hatte. Auf dem Foto war ich zu sehen. Und Grant. Wir saßen zusammen auf einem Stück Treibholz am Strand. Und lächelten beide. Kein erzwungenes Lächeln, sondern eines, das mit einem Lachen begonnen hatte und mit einem Lachen endete.
»Ich sehe da glücklich aus«, flüsterte ich.
»Vergiss das nicht.« Grant nahm das Bild aus dem Rahmen und drückte es mir in die Hand. »Du bist nicht allein, Maxine. Du bist nicht… ungeliebt.«
Ich atmete tief aus. »Das bedeutet also, dass es noch mehr gibt, das ich verlieren kann.«
»Und mehr, um das es sich zu kämpfen lohnt.«
»Mehr Ärger am Arsch, als ich sowieso schon habe.«
Grant lächelte. »Aber ich habe einen ziemlich knackigen Arsch.«
Ich lachte. Es sprudelte einfach so aus mir raus, noch bevor
ich es verhindern konnte. Es war kein anzügliches Kreischen, kein verlegenes Kichern, nur ein richtiges Lachen, das sich warm anfühlte und mehr nach mir selbst, als ich mich heute Morgen gefühlt hatte, nachdem ich in einer Blutlache aufgewacht war.
Grant saß auf der Tischkante und betrachtete mich. »Was glaubst du, was hier vorgeht, Maxine? Ist diese Frau auch ein Grund dafür, dass du deine Erinnerung verloren hast?«
Ich schüttelte den Kopf und sah noch immer das Foto an. »Ich glaube, dass Jack wusste, dass sie kommen würde. Ich glaube, dass er deshalb mit mir reden wollte. Was in der letzten Nacht passiert ist …« Ich unterbrach mich und lehnte mich an die Wand. »Du hättest den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen sollen, die Art, wie sie sich vor Jacks Leiche niederwarf. Sie vergöttert seine Art. Sie glaubt, sie seien Götter. Sie warf mir vor, ihn nicht beschützt zu haben, als wäre es ein Zeichen meiner Schuld, dass sein menschlicher Körper tot und ich noch am Leben war. Ich denke … ich
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