Chroniken der Jägerin 3
Menschen mit seiner Stimme zu beeinflussen. Fähig, einen Dämon zu wandeln, bis in den tiefsten Kern seines Daseins hinein.
Er war in der Lage, einen Avatar zu töten.
Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, aber ich wusste, dass es stimmte. Wer weiß, wozu er noch imstande war.
Einen Vorgeschmack hast du ja bereits bekommen. Bei der Begegnung mit Mama-Blut.
Mama-Blut. Die Dämonenkönigin. Obwohl ich mich in Bezug auf Grant an nichts erinnern konnte, was vor diesem Morgen geschehen war, konnte ich mich dieser beiden Avatare, Ahsen und Mr. Koenig, doch entsinnen, die vor irgendetwas oder irgendjemandem in meiner Umgebung Angst gehabt hatten. Die hungrig waren und Angst hatten.
Vor ihm.
Und vor etwas in mir. Der Finsternis, die einen so leichten Schlaf hatte.
»Lichtbringer«, hauchte ich und ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. Es wühlte keine Erinnerungen auf, aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich dazu veranlasst, meinen Brustkorb zu berühren. Ich lauschte nach dem sechsten Herzschlag.
Doch schon nach einem kurzen Augenblick hörte ich damit auf. Ich wollte nicht daran denken. Es machte mir Angst. Selbst Grant machte mir Angst. Er war gefährlich. Meine Mutter hätte ihn vermutlich schon aufgrund der bloßen Möglichkeit, dass er eine Bedrohung darstellen könnte, getötet.
Kein Lebewesen sollte diese Art von Macht besitzen.
Mich eingeschlossen.
Ich begleitete Grant, als man ihn zu einem Leichensack brachte. Einer der Polizisten, eine Frau, musterte mich kurz und lächelte dann knapp. »Haben Sie Ihre Haare einer wohltätigen Einrichtung gespendet?«
»Ja«, log ich und sah hinter ihr den Feuerwehrmann, den ich gerettet hatte. Er saß weiter hinten in einem Krankenwagen, mit einer Wolldecke über den Schultern und einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, und starrte ins Nichts. Ich drehte mich etwas herum, damit er nur meinen Rücken sehen konnte.
Ralph trug Latexhandschuhe und öffnete den Leichensack. Ich war nicht überrascht davon, dass es der Mann war, den ich vor Byrons Tür gefunden hatte. Er war verbrannt, aber nicht so sehr, wie ich erwartet hatte. Selbst das Stückchen Kleidung, das ich sah, schien nur geringfügig verkohlt zu sein.
Was mich jedoch vor allem irritierte, war die Tatsache, dass seine Gesichtszüge selbst für einen Toten beunruhigend ausdruckslos wirkten. Als wenn jemand einen Radiergummi genommen und ihm alles außer Mund, Nase und Augen einfach aus dem Gesicht radiert hätte. Er sah so … unwirklich aus. Wie eine Puppe.
»Nein. Den habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Grant entschlossen. »Ich versteh auch gar nicht, was er hier oben gewollt haben könnte. War er denn der Einzige?«
»Glücklicherweise.« Ralph zögerte. »Kennen Sie jemanden, der Ihr Gebäude in Brand setzen würde?«
»Nein.« Grant sah ihm tief in die Augen. »Ich hoffe wirklich sehr, dass es nur ein unglücklicher Unfall gewesen ist.«
Ralph schien Schwierigkeiten zu haben, seinen Blick von dem Toten loszureißen. »Die Brandsachverständigen werden das herausfinden.«
Er stellte uns noch einige weitere Fragen, versprach, mit uns
in Verbindung zu bleiben, und entließ uns dann zu den freiwilligen Helfern, die dicht gedrängt am Absperrband der Polizei standen und Grant mit neugierigen Augen betrachteten. Ich zog nur wenige Blicke auf mich, und es war eindeutig, von wem die Menge Antworten hören wollte.
Nach kurzer Zeit hatte er alle beruhigt. Grant schickte die Freiwilligen nach Hause und kündigte an, dass das Obdachlosenheim für ein paar Tage geschlossen bliebe. Er sprach mit mehreren Frauen und bat sie, ein paar Telefonate zu führen, um zwischenzeitlich Unterkünfte für die Stammgäste zu finden. Einer Frau sagte er, dass sie, wenn nötig, Hotelzimmer buchen sollte, und gab ihr seine Kreditkarte. Niemand diskutierte, niemand jammerte. Ich beobachtete die Menge und lauschte seiner Stimme.
»Du hast deine … Gabe nicht angewandt«, sagte ich, als wir in das Gebäude zurückgingen.
»Das brauchte ich gar nicht.« Grant blickte zu mir herunter. »Menschen können sehr vernünftig sein, weißt du. Und auch anständig.«
»Unverbesserlicher Optimist.«
»Pessimistin.«
»Kannst du Anständigkeit denn sehen ?« Ich bewegte meine Finger, als würde ich den Umriss einer Person durchpausen. »Wenn du jemanden anschaust?«
»Ich sehe viele Dinge. Manchmal mehr, als mir lieb sind. Gelegentlich mehr, als ich … ertragen kann.« Grimmig verzog er das Gesicht und zuckte mit
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