Chroniken der Jägerin 3
deiner Leiche.« Ein kalter, harter Knoten saß in meinen Eingeweiden – derselbe Knoten, der schon den ganzen Tag in mir gesessen hatte, jetzt nur größer, gewachsen wie ein Tumor. »Was ist denn geschehen? Wer hat dir die Kehle durchgeschnitten?«
Rex machte ein überraschtes Geräusch. Grant warf ihm einen warnenden Blick zu, und Mary lehnte sich gegen ihre Regale, streichelte die Blätter ihrer Pflanze und sah Jack lange und nachdenklich an.
Mein Großvater beantwortete meine Frage nicht. Er wich nur zurück und starrte mich an, als hätte er mich nie zuvor gesehen.
»Wie konntest du das nur vergessen?«
»Sag du es mir.« Ich blickte ihm so fest in die Augen, dass ich schon dachte, mein Kopf würde platzen. »Jemand ist deinetwegen gekommen. Jetzt hast du Byron zur Zielscheibe gemacht. Was ist, wenn sie seinen Körper verletzt, und was wird, wenn sie ihn deinetwegen Gott weiß wohin verschleppt?«
Jack schnellte nach vorn. »Wer ist gekommen?«
»Ein anderer Jagdhund«, meldete sich Mary und klopfte sich mit einem langen, knochigen Finger auf die Brust, »hat deine Witterung aufgenommen.«
»Verdammter Mist!«, stieß Rex hervor, und seine Aura schlängelte sich an seinen Schultern entlang. »Diese Welt wird allmählich ein bisschen zu voll.«
»Sie nennt sich die Botin «, sagte ich und ignorierte Rex. »Sie sei von ihren Aetar-Meistern geschickt worden. Gelobt sei ihr Licht .«
Purer Abscheu rieselte mir über den Rücken, als ich diese Worte aussprach. Mein Mund fühlte sich besudelt an. »Ich habe den Ausdruck in ihren Augen gesehen. Sie wird so oft wiederkommen, bis sie entweder tot ist oder dich ins Labyrinth zurückgeschleppt hat. Und wenn sie nicht zurückkehrt, wird dein Volk einfach die Nächste schicken. Oder irre ich mich da etwa?«
Jacks Ausdruck war finster. Er senkte den Blick, sah das Amulett an seinem Hals hängen und schüttelte sich. Dann stopfte er es hastig unter sein T-Shirt. »Lass mich aufstehen.«
Grant schob mich zur Seite, er war zärtlich, als er mich berührte. Aber in seiner Miene war keine Spur von Milde zu erkennen. »Nenn mir einen guten Grund, dich in dem Jungen drinzulassen.«
»Das kann ich nicht«, antwortete Jack und sah dabei aus, als wünschte sich er nichts sehnlicher, als wieder in die Kissen zu sinken und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. »Aber für etwas anderes ist einfach keine Zeit. Für keine Gebärmutter und auch nicht für einen Komapatienten, dessen Hirn ich erst mal reparieren müsste. Ich hätte das hier nie getan, wenn es irgendeinen anderen Weg gegeben hätte.«
»Das ist doch krank!«, stieß ich hervor. »Das alles ist ja vollkommen krank.«
»Es ist das Leben«, erwiderte Jack heiser. »Das Überleben.«
»Ich werde nicht zulassen, dass Byrons Kehle durchgeschnitten wird.«
»Jetzt hör mal für einen Moment lang auf, dir um den Jungen Sorgen zu machen. Worüber wir uns unterhalten müssen, hat mit meinem … Tod doch gar nichts zu tun.«
»Womit dann?«
Er rutschte unruhig auf der Liege hin und her und rieb sich die Hände, als wasche er sie, so lange, bis sich die Haut rötete. Raus mit dir, verdammter Fleck. »Du erinnerst dich nicht? Das solltest du aber.«
Ich packte sein Handgelenk, hielt ihn fest. »Du wirst Byrons Haut noch ganz wund scheuern, wenn du so damit weitermachst.«
»Das spielt keine Rolle.« Jack schloss die Augen. »Weißt du, wie oft dieser Junge in den letzten dreitausend Jahren schon gestorben ist? Weil er ermordet wurde, durch Schläge, oder weil er ganz einfach verhungert ist?«
Mich fröstelte, und die Kälte zog mir bis in die Magengrube. Zee wand sich wieder auf meiner Haut. Ich berührte mein Brustbein, um ihn und mich selbst zu beruhigen.
Jack flüsterte: »Du liebst Byron sehr.«
»Ja, ich liebe ihn.« Ich konnte kaum sprechen. »Er ist zwar nicht mein Kind, aber ich liebe ihn wie eines.« Sein Gesicht schien sich in Falten zu legen, und nacktes Elend und Kummer füllten für kurze Zeit seine Augen. Doch dann rieb er sie und seufzte. Erstaunlich, wie viel von dem alten Mann ich in Byron wiedererkennen konnte. Wie er seinen Kiefer bewegte, wie er den Kopf neigte, wie er zuerst Grant musterte und dann mich.
Es war wie eine grobe Karikatur, die den Jungen überlagerte. Ich musste wegschauen.
Jack sagte: »Es hatte alles anders laufen sollen. Letzte Nacht, nach der Party, habe ich gespürt, dass jemand hinter mir her war. Ich bemerkte eine Erschütterung des Labyrinths, und es gab ein paar
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