Chroniken der Jägerin 3
vermute, sie glaubt, ich hätte ihn umgebracht. Sie nannte mich seinen Schänder.«
»Klingt nach jemandem, der… fanatisch ist.«
»… und der seine Stimme benutzt, um einer alten Frau das Leben auszusaugen?«
»Der Mann da oben in dem Leichensack, er war auch ausgesaugt worden.«
»Woher weißt du das?«
»Er war irgendwie … leerer … als ein normaler Toter. Eine frische Leiche enthält immer noch ein wenig Restenergie. Dieser Mann aber hatte nichts davon. Mary wäre auf die gleiche Art gestorben, wenn du diese Frau nicht aufgehalten hättest.«
»Dann hättest du es wahrscheinlich getan.«
»Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, Mary wieder Energie
einzuflößen.« Grant lächelte grimmig. »Ich hätte anders handeln müssen. Ich hätte sie angreifen sollen.«
»Du bist nur deinen Instinkten gefolgt. Du hast Mary gerettet. Daran ist nichts falsch.«
»Außer, dass die Frau verschwunden ist. Dass sie irgendwo da draußen herumläuft und jetzt wahrscheinlich anderen etwas zuleide tut.« Grant sah auf seine Hände hinunter. »Sie weiß, was sie tut. Sie wurde dafür ausgebildet. Nicht wie ich, Maxine. Ich habe noch immer nicht alles verstanden, wozu ich in der Lage bin. Ich habe diese Sache mein Leben lang immer nur improvisiert.«
»Und deine Mutter?«
»Hat es mir nie erzählt. Sie starb, als ich noch ein Teenager war.« Er zeigte auf das Foto in meiner Hand. »In den letzten zwei Jahren habe ich mehr über mich selbst gelernt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Mehr, als ich es mir hätte vorstellen wollen . Ohne dich … wäre das schwierig gewesen.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich es dir wirklich leichter gemacht habe. Ich bin keine gute Gesellschaft.«
Grant schüttelte den Kopf, sein Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. »Du bist mein einziger Freund, Maxine. Vor dir hatte ich niemanden. Niemanden, mit dem ich darüber reden konnte, wer ich bin. Niemanden, zu dem ich ehrlich sein konnte. Ich glaube, du verstehst sehr gut, was das bedeutet. Besser als jeder andere.«
Ich starrte ihn an. Niemand konnte mich so ansehen und mich dabei belügen. Kein Lügner könnte so viel Zeit mit mir verbringen, ohne dass die Jungs ihn töten würden. Und niemand außer diesem Mann würde mir ohne mit der Wimper zu zucken dabei zusehen, wie ich – glatzköpfig und tätowiert – eine Frau mit meinen bloßen Händen erwürgte, wie ich Dämonen austrieb und über das Ende der Welt sprach.
Was hatte ich alles verloren?
»Jetzt habe ich dir Angst gemacht«, sagte Grant leise.
»Ja, du machst mir oft Angst.«
»Fürchtest du dich davor, glücklich zu sein?«
Ich hielt das Foto hoch. »Das da ist überwältigend. Immerhin war geplant, dass ich mein ganzes Leben allein sein würde.«
»Aber du hast dir ein Zuhause geschaffen.«
»Ich habe mir ein Zuhause geschaffen, ja«, stimmte ich ihm zu. »Ich wünschte, ich würde mich an dich erinnern.«
Grant stieß sich vom Tisch ab und stützte sich dann mühevoll auf seinen Gehstock. »Komm mit. Mary und Rex sind wahrscheinlich schon dabei, sich Joints zu drehen.«
Ich schob das Foto in die Tasche meiner Weste. »Dieser Bulle hat dich mit Vater Cooperon angesprochen. Gibt es noch etwas, das du mir erzählen willst?«
Grant lächelte und hielt mir die Bürotür auf. »Was denkst du denn, was das bedeuten könnte?«
»Du willst bestimmt nicht wissen, was ich darüber denke.«
Er beugte sich ganz dicht an mein Ohr herunter. Ich bewegte mich nicht, atmete nicht, ich blinzelte nicht einmal. Aber statt etwas zu sagen, drehte er den Kopf ein kleines bisschen und küsste meine Wange. Weich, sanft und mit seinem Mund auf meiner Haut verweilend. Hitze überflutete mich. Mein Herz pochte, und ich hätte so gerne meinen Kopf gedreht, um herauszufinden, wonach seine Lippen schmeckten. Nach Zimt vielleicht. Oder nach Sonnenlicht.
Aber ich tat es nicht, und er war fort, bevor ich mich traute.
Mein zweiter Kuss , dachte ich.
Wir sprachen nicht, als wir zum Keller zurückgingen. Obwohl ich wollte. Ich hatte noch mehr Fragen. Ich wollte keine Zeit für Stille verschwenden. Aber ich fühlte mich aus dem
Gleichgewicht gebracht und war nicht sicher, ob meine Stimme erklingen würde.
Am Ende der Treppen fing Zee zu zucken an. Es war keine wirkliche Warnung, aber auch nichts, was ich als gegeben hinnehmen wollte. Ich ließ Grant hinter mir und rannte zu Marys Zimmer.
Ich öffnete die Tür – und das Erste, was ich sah, war Byron,
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