Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Zimmer, ihre Schwester wie üblich im Kielsog. An der Tür hielt Mrs Dark plötzlich inne und drehte sich noch einmal zu Tessa um. »Denke daran, Theresa, dass dieser Tag, dieser Abend, das Ziel all unserer Anstrengungen ist.« Dann raffte sie mit ihren knochigen Fingern ihre Röcke und fügte hinzu: »Und wehe dir, du enttäuschst uns!« Eine Sekunde später fiel die Tür hinter ihr mit einem Knall ins Schloss.
Tessa zuckte zusammen, wogegen Miranda wie üblich vollkommen unbeeindruckt wirkte. Während der ganzen Wochen im Dunklen Haus war es Tessa nicht ein einziges Mal gelungen, das andere Mädchen zu erschrecken oder zu einer überraschten, unbedachten Reaktion zu verleiten.
»Kommen Sie«, sagte Miranda nun. »Wir müssen nach oben gehen.«
Langsam richtete Tessa sich auf. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. Ihr Dasein im Dunklen Haus war zwar schrecklich gewesen, aber sie hatte sich fast daran gewöhnt, wie sie nun schlagartig erkannte. Denn sie hatte jeden Tag gewusst, was sie erwartete. Und natürlich war ihr bewusst gewesen, dass die Dunklen Schwestern sie für irgendetwas vorbereiteten, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, was dieses »Etwas« sein mochte. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass die beiden sie nicht töten würden - was vielleicht sehr naiv gewesen war. Andererseits: Warum sollten die Schwestern sich all die Mühe mit ihrer Ausbildung geben, wenn sie ohnehin dem Tode geweiht war?
Doch irgendetwas in Mrs Darks selbstgefälligem Ton ließ Tessa nachdenklich werden. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Schwestern hatten erreicht, was sie mit ihr hatten erreichen wollen. Nun würden sie »entlohnt« werden. Aber wer war derjenige, der sie entlohnen würde?
»Kommen Sie«, wiederholte Miranda. »Wir müssen Sie für den Magister bereit machen.«
»Miranda ...«, setzte Tessa mit sanfter Stimme an, so als spräche sie mit einer nervösen Katze. Zwar hatte Miranda noch keine einzige von Tessas Fragen beantwortet, aber das bedeutete ja nicht, dass man es nicht noch einmal versuchen konnte. »Miranda ... wer ist der Magister?«
Stille machte sich breit, eine lange Stille, während der Miranda mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin starrte. Doch dann erwiderte das Mädchen zu Tessas Überraschung: »Der Magister ist ein sehr bedeutender Mann. Es wird eine große Ehre für Sie sein, wenn Sie mit ihm vermählt werden.«
»Vermählt?«, stieß Tessa hervor. Der Schock war so groß, dass sie den Raum plötzlich glasklar sehen konnte: Miranda, den blutbespritzten Teppich auf dem Boden, den schweren Messingglobus auf dem Schreibtisch, noch immer in der leicht geneigten Position, in der Mrs Black ihn zurückgelassen hatte. »Ich? Heiraten? Aber ... wer ist er denn überhaupt?«
»Er ist ein sehr bedeutender Mann«, wiederholte Miranda. »Es wird eine große Ehre sein.« Sie ging auf Tessa zu. »Sie müssen jetzt mitkommen.«
»Nein.« Tessa wich vor dem anderen Mädchen zurück, bis sie mit dem unteren Rücken schmerzhaft gegen die Schreibtischkante stieß. Verzweifelt sah sie sich um. Sie könnte zwar zu fliehen versuchen, aber sie würde niemals an Miranda vorbeikommen, die die Tür blockierte. Und der Raum besaß weder Fenster noch Türen zu benachbarten Zimmern. Wenn sie sich hinter dem Schreibtisch verschanzte, würde Miranda sie einfach hervorzerren und auf ihr Zimmer schleifen. »Miranda, bitte.«
»Sie müssen jetzt mitkommen«, wiederholte Miranda lediglich und marschierte unaufhaltsam auf Tessa zu.
Tessa konnte in den schwarzen Pupillen des Dienstmädchens bereits ihr eigenes Spiegelbild erkennen, konnte den leicht bitteren, fast verbrannten Geruch wahrnehmen, der in Mirandas Kleidern hing.
»Sie müssen ...«
Mit einer Kraft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, riss Tessa den Messingglobus vom Schreibtisch, hob ihn hoch und schlug ihn Miranda mit voller Wucht über den Schädel.
Der massive Fuß traf mit einem übelkeiterregenden Klang gegen die Stirn des Mädchens. Miranda taumelte rückwärts - und richtete sich dann auf. Tessa schrie erschrocken auf, ließ den Globus fallen und starrte entsetzt auf das Mädchen: Die gesamte linke Gesichtshälfte war zerschlagen wie eine eingedrückte Maske aus Pappmaschee. Der linke Wangenknochen war zertrümmert, die Lippe gegen die Zähne gequetscht. Aber es floss kein Blut, nicht ein einziger Tropfen.
»Sie müssen jetzt mitkommen«, sagte Miranda, im selben ausdruckslosen Ton wie immer.
Tessa starrte sie mit offenem Mund
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