Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Charlotte. »Dann hat de Quincey also doch nicht gelogen ...« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie ihr Gehirn von Spinnweben befreien, um wieder klar denken zu können. »Als wir bei seinem Haus in Chelsea eintrafen, fanden wir nur eine Handvoll Vampire dort vor, höchstens sechs oder sieben - und ganz bestimmt nicht die Hundertschaften, vor denen Nathaniel uns gewarnt hatte. Und auch von den Klockwerk-Kreaturen war nirgends etwas zu sehen. Benedict hat de Quincey getötet, aber erst nachdem der Vampir uns ausgelacht hat, weil wir ihn als den Magister bezeichneten. Er meinte, wir hätten uns von Mortmain zum Narren machen lassen. Mortmain. Und ich dachte, er wäre nur ein ... ein ganz gewöhnlicher Irdischer.«
Henry ließ sich auf die oberste Treppenstufe sinken und legte den Säbel klirrend neben sich. »Das ist eine Katastrophe.«
»Will«, murmelte Charlotte benommen und wie in Trance. »Und Tessa. Wo sind die beiden?«
»Tessa ist im Sanktuarium. Zusammen mit Mortmain. Und Will ...« Jessamine schüttelte den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass er zurück ist.«
»Will muss bereits drinnen sein«, erklärte Jem und schaute an der hohen Portalmauer hoch. Mit Sorge erinnerte er sich an seinen giftgeplagten Albtraum: das lichterloh brennende Institut, die schwere Rauchwolke über London und die gewaltigen Klockwerk-Kreaturen, die wie monströse Spinnen zwischen Häusern und Gebäuden hin und her staksten. »Er ist bestimmt auf der Suche nach Tessa«, fügte er hinzu.
Aus Mortmains Gesicht war jede Farbe gewichen. »Was tun Sie da?«, herrschte er Tessa an und marschierte auf sie zu.
Tessa platzierte die Messerspitze auf ihre Brust und drückte zu. Der scharfe, plötzliche Schmerz nahm ihr einen Moment lang die Luft und Blut breitete sich auf ihrem Mieder aus. »Keinen Schritt näher«, stieß sie atemlos hervor.
Mortmain hielt tatsächlich inne, musterte sie aber mit wutverzerrtem Gesicht. »Was verleitet Sie zu der Annahme, dass es mich interessieren würde, ob Sie leben oder sterben, Miss Gray?«
»Sie haben es selbst gesagt: Sie waren derjenige, der mich erschaffen hat«, erwiderte Tessa. »Sie wollten, dass es mich gibt, aus welchem Grund auch immer. Und Sie schätzten mein Wohlergehen hinreichend genug, um den Dunklen Schwestern zu untersagen, mir bleibenden Schaden zuzufügen. Aus irgendeinem Grund bin ich für Sie wichtig. Oh, natürlich nicht ich selbst, sondern meine Fähigkeit. Das ist das Einzige, was Sie interessiert.« Tessa spürte, wie ihr Blut warm und feucht an ihrem Körper hinablief - doch der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Genugtuung, die sie empfand, als sie den Ausdruck der Furcht auf Mortmains Gesicht sah.
»Was wollen Sie von mir?«, stieß Mortmain zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Nein - was wollen Sie von mir? Los, verraten Sie es mir. Sagen Sie mir, warum Sie mich erschaffen haben. Sagen Sie mir, wer meine wahren Eltern sind. War meine Mutter wirklich meine leibliche Mutter? Und mein Vater tatsächlich mein Vater?«
Mortmain musterte sie mit einem verzerrten Lächeln. »Sie stellen die falschen Fragen, Miss Gray.«
»Warum bin ich ... so, wie ich bin? Und wieso ist Nate nur ein Mensch? Warum besitzt er nicht dieselben Eigenschaften wie ich?«
»Nathaniel ist nur Ihr Halbbruder. Er ist nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Mensch und noch dazu kein sonderlich beeindruckendes Exemplar der menschlichen Rasse. An Ihrer Stelle würde ich es nicht bedauern, dass Sie ihm nicht stärker ähneln.«
»Dann ...«, setzte Tessa an, verstummte aber. Ihr Herz pochte wie wild. »Meine Mutter kann keine Dämonin gewesen sein«, überlegte sie leise. »Und auch kein anderes übernatürliches Wesen. Denn Tante Harriet war ihre Schwester und sie war nur ein Mensch. Dann muss es also mein Vater gewesen sein ... War mein Vater ein Dämon?«
Mortmain grinste - ein plötzliches, hässliches Grinsen. »Legen Sie das Messer weg und ich beantworte Ihnen all Ihre Fragen. Vielleicht können wir das Ding ja sogar heraufbeschwören, das Sie gezeugt hat, wenn Sie so erpicht darauf sind, ihn kennenzulernen - oder sollte ich besser ›es‹ sagen?«
»Dann bin ich also eine Hexe«, brachte Tessa mit zugeschnürter Kehle hervor. »Ist es das, was Sie sagen wollen?«
Mortmains helle Augen maßen sie spöttisch. »Wenn Sie darauf bestehen - ja, vermutlich ist dieses Wort die beste Beschreibung für das, was Sie sind.«
Plötzlich hörte Tessa wieder Magnus Banes klare Stimme in
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