Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
auch an niemand anderen wenden, aber warum sollten die Schattenjäger sich dafür interessieren? Gesetz war schließlich Gesetz und daran ließ sich nun mal nicht rütteln. Vielleicht würde sie am Ende ja doch noch mit Jessamine unter einem Dach landen, in irgendeinem Stadthaus in Belgravia. Es gab weiß Gott schlimmere Schicksale.
Das Rattern der Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster im Innenhof riss Tessa aus ihren düsteren Gedankengängen: Die Schattenjäger waren aus der Stadt der Stille zurückgekehrt. Sophie eilte die Treppe hinunter, um sie an der Tür zu begrüßen, während Tessa durch das Fenster zusah, wie die fünf Nephilim der Reihe nach aus der Kutsche kletterten.
Henry legte einen Arm um Charlotte, die sich eng an ihn lehnte. Dann folgte Jessamine, mit einem hellen Blütenkranz in den blonden Haaren. Normalerweise hätte Tessa ihr Erscheinungsbild bewundert - wenn sie nicht insgeheim den Verdacht gehegt hätte, dass Jessamine Begräbnisse genoss, weil sie wusste, dass sie in Weiß ganz besonders hübsch wirkte. Als Nächster stieg Jem aus der Kutsche und schließlich Will. Die beiden sahen aus wie zwei Figuren aus einem seltsamen Schachspiel: Sowohl Jems silbernes Haar als auch Wills zerzauste schwarze Locken setzten sich deutlich von der hellen Kleidung ab. Weißer Ritter und schwarzer Ritter, dachte Tessa, während die beiden jungen Männer die Stufen hinaufstiegen und im Haus verschwanden.
Tessa hatte kaum ihr Buch auf die Sitzbank neben sich gelegt, als sich die Tür auch schon öffnete und Charlotte den Raum betrat - ganz darauf konzentriert, die langen Handschuhe abzustreifen. Ihr Hut war verschwunden und ihre braunen Haare umrahmten ihr kleines Gesicht in wild gekräuselten Locken.
»Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde«, sagte sie, durchquerte den Raum und ließ sich gegenüber von Tessas Fensterbank in einen Sessel sinken. Müde warf sie die weißen Glacehandschuhe auf den kleinen Beistelltisch und seufzte.
»War es ...«, setzte Tessa an.
»Schrecklich? Ja. Ich hasse Begräbnisse, obwohl der Erzengel weiß, dass ich bereits an Dutzenden teilgenommen habe.« Charlotte schwieg einen Moment und biss sich auf die Lippe. »Jetzt klinge ich schon wie Jessamine. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, Tessa. Verzicht und Tod sind Teil eines jeden Schattenjägerlebens und ich habe das seit jeher akzeptiert.«
»Ich weiß.« Eine seltsame Stille breitete sich aus und Tessa glaubte, ihr Herz dumpf und hohl schlagen zu hören, wie das Ticken einer Standuhr in einem großen, leeren Raum.
»Tessa ...«, begann Charlotte.
»Ich weiß, was du sagen willst, Charlotte, und es ist schon in Ordnung.«
Charlotte blinzelte verwirrt. »Du weißt ...? Und es ist in Ordnung?«
»Du möchtest, dass ich gehe«, erklärte Tessa. »Ich weiß, dass du vor dem Begräbnis eine Unterredung mit dem Rat hattest. Jem hat es mir erzählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nephilim es gutheißen würden, wenn du mir erlaubst zu bleiben. Nach all dem Schrecken und Kummer, den ich euch bereitet habe: Nate. Thomas und Agatha ...«
»Der Rat interessiert sich nicht für Thomas und Agatha.«
»Na, dann das Entwenden der Pyxis.«
»Das schon eher«, erwiderte Charlotte gedehnt. »Tessa, ich glaube, du hast eine völlig falsche Vorstellung. Ich bin nicht gekommen, um dich zum Gehen aufzufordern. Ich möchte dich vielmehr bitten zu bleiben.«
»Zu bleiben?« Tessa hörte die Worte, doch sie ergaben für sie keine Bedeutung - Charlotte konnte sie unmöglich ernst gemeint haben. »Aber der Rat, die Schattenjäger ... Sie müssen doch schrecklich wütend sein ...«
»Oh ja, das sind sie auch«, bestätigte Charlotte. »Aber auf Henry und mich. Wir haben uns von Mortmain täuschen lassen. Er hat uns benutzt und zu seinen Werkzeugen gemacht - und wir haben es ihm gestattet. Ich war so stolz auf mich, auf die kluge und geschickte Art, wie ich die Sache in die Hand genommen hatte. So stolz, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, Mortmain könnte in Wahrheit die Fäden in der Hand halten. Und ich habe nicht eine Minute darüber nachgedacht, dass außer Mortmain und deinem Bruder niemand, aber auch wirklich niemand bestätigt hat, dass de Quincey der Magister war. Sämtliche ›Beweise‹ gründeten nur auf Indizien und dennoch habe ich mich überzeugen lassen.«
»Nun ja, die Hinweise waren schon sehr überzeugend«, versicherte Tessa Charlotte eilig. »Die Plakette in Mirandas Körper. Die
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