Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
farblos aussehen, und dann hat sie es in die hinterste Ecke ihres Kleiderschranks geworfen. Ziemlich undankbar, wenn Sie mich fragen ... aber jetzt sollten Sie sich wirklich kurz in die Wangen kneifen, Miss Gray - Sie wirken so bleich wie der Mond.«
Tessa folgte Sophies Rat, dankte ihr anschließend und trat aus dem Zimmer in einen langen, steinernen Korridor, wo Charlotte sie bereits erwartete und sich sofort in Bewegung setzte, als Tessa die Tür hinter sich geschlossen hatte. Leicht humpelnd versuchte Tessa, mit ihr Schritt zu halten - die schwarzen Seidenschuhe waren keine Wohltat für ihre geschundenen Füße.
Während sie Charlotte durch die Gänge folgte, kam sie sich vor wie in einer Burg: Die Decken waren so hoch, dass sie in den Schatten verschwanden, und an den Mauern hingen schwere Gobelins. Oder zumindest stellte Tessa sich das Innere einer Burg so vor. Verschiedene wiederkehrende Motive schmückten die Wandteppiche - Sterne, Schwerter und dieselben schwarzen Muster, die sie auf Wills und Charlottes Haut gesehen hatte. Außerdem tauchte ein Bild immer wieder auf: ein Engel, der aus einem See aufstieg, ein Schwert in der einen und einen Kelch in der anderen Hand.
»Dieses Gebäude war früher einmal eine Kirche«, beantwortete Charlotte Tessas unausgesprochene Frage. »Eine Kirche namens ›All-Hallows-the-Less‹. Während des Großen Brands im Jahr 1666 brannte sie bis auf die Grundmauern nieder. Wir übernahmen das Grundstück und errichteten das Institut auf den Ruinen des alten Gotteshauses. Für unsere Zwecke ist ein Standort auf geweihtem Boden sehr nützlich.«
»Finden die Menschen es denn nicht merkwürdig, dass Sie Ihr Institut auf den Mauern einer alten Kirche gebaut haben?«, fragte Tessa.
»Sie wissen nichts davon. Irdische - so bezeichnen wir herkömmliche Bürger - nehmen uns gar nicht wahr«, erklärte Charlotte. »Für sie sieht das Gelände nach wie vor wie ein leeres Grundstück aus. Darüber hinaus interessieren sich Irdische nicht sonderlich für Dinge, die sie nicht direkt betreffen.« Sie drehte sich um und komplimentierte Tessa durch eine Tür in einen großen, hell erleuchteten Speisesaal. »Da wären wir.«
Tessa musste einen Moment blinzeln, um ihre Augen an das helle Licht zu gewöhnen. Dann sah sie sich um. Im Zentrum des riesigen Raums stand ein großer Tisch, der bis zu zwanzig Gästen Platz bot und in dessen Mitte eine flache Glasschale mit weißen Blüten thronte. Von der Decke hing ein gewaltiger Gaslüster, der den Saal mit einem gelblichen Schein erfüllte. Oberhalb eines Sideboards, auf dem sich teures Porzellan stapelte, erstreckte sich ein goldgerahmter Spiegel über die gesamte Breite der Wand. Alles wirkte sehr geschmackvoll - und sehr normal. Der Raum hatte nichts Ungewöhnliches an sich, nichts, das auch nur einen vagen Hinweis auf die wahre Natur der Hausbewohner bot.
Obwohl der gesamte Tisch mit weißen Damasttüchern drapiert war, hatten die Dienstboten lediglich das hintere Ende der Tafel für fünf Personen eingedeckt. Und nur zwei Personen hatten bereits Platz genommen: Will und ein blondes Mädchen, das etwa in Tessas Alter war und ein schimmerndes, tief ausgeschnittenes Kleid trug. Die beiden schienen einander geflissentlich zu ignorieren, und als Charlotte und Tessa den Raum betraten, schaute Will sichtlich erleichtert auf.
»Will«, wandte Charlotte sich an den jungen Mann. »Du erinnerst dich doch gewiss noch an Miss Gray?«
»Meine Erinnerungen an Miss Gray sind in der Tat höchst lebendig«, bestätigte Will. Statt der seltsamen schwarzen Kleidung vom Vortag trug er nun eine herkömmliche Stoffhose und einen grauen Gehrock mit schwarzem Samtkragen. Das Grau ließ seine Augen noch blauer leuchten als zuvor. Er betrachtete Tessa mit einem belustigten Lächeln, woraufhin diese errötete und rasch den Blick abwandte.
»Und Jessamine - Jessie, nun schau doch mal her! Jessie, das ist Miss Theresa Gray; Miss Gray, das ist Miss Jessamine Lovelace.«
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Jessamine. Tessa starrte das Mädchen mit großen Augen an: Jessamine war fast unanständig hübsch - eine englische Schönheit, wie sie sonst nur in Tessas Büchern vorkam, mit weizenblonden Haaren, hellbraunen Augen und einem cremeweißen Teint. Sie trug ein leuchtend blaues Kleid und an fast jedem Finger Ringe. Falls sie dieselben schwarzen Zeichnungen wie Will und Charlotte besaß, waren sie jedenfalls nicht zu sehen, überlegte
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