Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
einer engen Vase.
An einem Haken an der Tür hing ein Morgenmantel, den Tessa nun nahm und überstreifte. Dann trat sie aus ihrem Zimmer, durchquerte den Flur wie in Trance und legte vorsichtig eine Hand auf die Tür, die unter ihrer Berührung weit aufschwang. Der dahinterliegende Raum war nur vom Mondschein beleuchtet und sie erkannte, dass das Zimmer ihrem eigenen ähnelte: dasselbe große Himmelbett, dieselben schweren Möbel. Die Vorhänge waren zurückgezogen und silbriges Licht fiel wie ein glitzernder Nadelregen durch das hohe Fenster. Im rechteckigen Lichtfleck vor dem Fensterbrett stand jemand ... ein Junge ... zu schmächtig für einen erwachsenen Mann. Der Junge drückte eine Geige gegen die Schulter; seine Wange ruhte auf dem Instrument und der Bogen strich über die Saiten und entlockte ihnen Töne - so zart und vollendet, wie Tessa sie noch nie gehört hatte.
Der Junge hatte die Augen geschlossen. »Will?«, fragte er, ohne die Lider zu öffnen oder sein Spiel zu unterbrechen, »Will, bist du das?«
Tessa schwieg. Sie brachte es nicht übers Herz, die liebliche Musik zu stören - doch im selben Moment nahm der Junge den Bogen von der Geige und öffnete stirnrunzelnd die Augen.
»Will ...«, setzte er an, doch als er Tessa sah, musterte er sie erstaunt. »Sie sind nicht Will.« Er klang neugierig und überhaupt nicht verärgert, trotz der Tatsache, dass Tessa mitten in der Nacht in sein Zimmer eingedrungen war und ihn beim Geigenspiel überrascht hatte, noch dazu in seiner Nachtwäsche. Zumindest nahm Tessa an, dass es sich um sein Nachtzeug handelte: Er trug eine dünne, weite Hose und ein kragenloses Hemd unter einem locker geknoteten Morgenmantel aus schwarzer Seide. Tessa hatte sich nicht geirrt - er war tatsächlich jung, wahrscheinlich im selben Alter wie Will, und sein schmächtiger Körperbau unterstrich den Eindruck der Jugendlichkeit zusätzlich. Zugleich war er groß und sehr schlank und unter dem Rand seines Hemds konnte Tessa die geschwungenen Konturen der schwarzen Zeichnungen erkennen, die sie auch bei Will und Charlotte gesehen hatte.
Jetzt wusste sie, wie diese Zeichnungen hießen - Runenmale. Und sie wusste auch, wozu sie ihren Träger machten - zu einem Nephilim. Dem Nachfahren eines Menschen und eines Engels. Kein Wunder, dass seine blasse Haut im Mondlicht so hell zu schimmern schien wie Wills Elbenlicht. Auch seine Haare leuchteten silberhell, genau wie seine mandelförmigen Augen.
»Bitte entschuldigen Sie vielmals«, setzte Tessa an und räusperte sich. Das Geräusch erschien ihr schrecklich laut und harsch in der Stille des Raumes und sie krümmte sich innerlich. »Ich ... es war nicht meine Absicht, hier einfach so einzudringen. Aber ... mein Zimmer liegt auf der anderen Seite des Flurs und ...«
»Ist schon in Ordnung.« Der junge Mann nahm die Geige von der Schulter. »Sie sind Miss Gray, stimmt's? Das Gestaltwandler-Mädchen. Will hat mir schon von Ihnen erzählt.«
»Oh«, murmelte Tessa.
»Oh?« Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Es scheint Sie nicht sehr zu erfreuen, dass ich weiß, wer Sie sind.«
»Nein, daran liegt es nicht. Ich habe vielmehr die Befürchtung, dass Will wütend auf mich ist«, erklärte Tessa. »Also, was auch immer er Ihnen erzählt haben mag . .«
Der Junge lachte. »Will ist auf die ganze Welt wütend«, erwiderte er. »Aber dadurch lasse ich mich nicht in meinem Urteil beeinflussen.« Das Mondlicht spiegelte sich auf der glänzenden Oberfläche der Geige, als er das Instrument zusammen mit dem Bogen auf einen hohen Schrank legte. Dann wandte er sich wieder Tessa zu. »Ich hätte mich Ihnen schon eher vorstellen sollen«, sagte er lächelnd. »Mein Name ist James Carstairs. Aber bitte nennen Sie mich Jem - alle nennen mich so.«
»Oh, Sie sind Jem. Sie waren nicht beim Abendessen«, bemerkte Tessa. »Charlotte meinte, Sie seien krank. Geht es Ihnen besser?«
Jem zuckte die Achseln. »Ich war nur müde, das ist schon alles.«
»Nun ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass Sie nach den vielen Aufgaben, die Sie alle zu erledigen haben, ziemlich müde sein müssen.« Nach der Lektüre des Codex brannte Tessa förmlich darauf, ihm weitere Fragen über die Nephilim zu stellen. »Will meinte, Sie wären aus einem fernen Land nach London gekommen ... Haben Sie vorher in Idris gelebt?«
Erstaunt hob Jem die Augenbrauen. »Sie wissen von Idris?«
»Oder waren Sie vielleicht in einem anderen Institut? Die gibt es in jeder größeren Stadt,
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