Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
die beiden um eine Ecke und waren außer Sicht.
Sophie sank gegen den Türpfosten. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie Jem jemals derartig zum Lachen gebracht hatte; wahrscheinlich war das noch niemandem zuvor gelungen, außer Will vielleicht. Man musste einen Menschen sehr gut kennen, um ihm ein derartiges Lachen zu entlocken. Sie selbst liebte Jem nun schon so lange - wie konnte es da sein, dass sie ihn überhaupt nicht kannte? Mit einem resignierten Seufzer nahm sie Eimer und Besen und wollte ihr Versteck gerade verlassen, als die Tür von Miss Jessamines Zimmer aufschwang und die junge Schattenjägerin im Türrahmen erschien. Ruckartig zog Sophie sich wieder in die Schatten zurück. Miss Jessamine trug einen langen Reiseumhang aus flaschengrünem Samt, der ihren Körper fast vollständig verhüllte. Sie hatte die Haare im Nacken fest zusammengebunden und hielt einen großen Herrenhut in der Hand.
Überrascht beobachtete Sophie, wie Jessamine zu Boden schaute, die Kampfmontur erblickte und das Gesicht verzog. Mit einem gezielten Tritt beförderte sie die Kleidung in ihr Zimmer - wodurch Sophie einen Blick auf ihren Fuß werfen konnte, der offenbar in Männerstiefeln steckte - und zog die Tür geräuschlos hinter sich ins Schloss. Dann sah sie sich kurz im Flur um, setzte den Hut auf, versenkte das Kinn tief im Kragen ihres Umhangs und schlich leise davon, während Sophie ihr verblüfft hinterherstarrte.
3
UNGERECHTFERTIGTER TOD
Ach! Freunde war’n sie in der Jugendzeit,
Doch Missgunst trübt die Ehrlichkeit
Und Treue weilt in himmlischen Sphären.
Das Leben ist dornig, die Jugend ist flüchtig
Und dem zu zürnen, den man liebt in Ehren,
Treibt in den Wahn, macht alles unwichtig.
SAMUEL TAYLOR COLERIDGE,
»CHIRSTABEL«
Am nächsten Morgen wies Charlotte Tessa und Sophie an, auf ihre Zimmer zu gehen, die neu angeschafften Kampfmonturen anzulegen und sich zu Jem in den Fechtsaal zu begeben, wo sie gemeinsam die Ankunft der Lightwood-Brüder erwarten sollten. Jessamine war nicht zum Frühstück erschienen, da sie angeblich unter Kopfschmerzen litt, und auch Will hatte sich nirgends blicken lassen. Tessa hegte den Verdacht, dass er sich versteckt hielt, um mit Gabriel Lightwood und dessen Bruder keine Höflichkeiten austauschen zu müssen - was sie ihm nur teilweise zum Vorwurf machen konnte.
Als sie sich in ihrem Zimmer umkleidete, verspürte sie ein nervöses Flattern im Bauch: Die Kampfmontur erschien ihr so völlig anders als alles, was sie jemals getragen hatte. Und Sophie war auch nicht da, um ihr mit der neuen Kleidung zu helfen. Denn zum Training gehörte schließlich auch, sich mit der Schattenjägerkluft vertraut zu machen und sie eigenhändig anzulegen: flache Schuhe, eine weite Hose aus einem schwarzen, robusten Stoff und ein langes, tunikaähnliches Oberteil mit Gürtel, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Obwohl Tessa Charlotte in dieser Montur bereits hatte kämpfen sehen und auch Illustrationen im Codex entdeckt hatte - schon damals waren sie ihr merkwürdig vorgekommen -, fühlte es sich noch eigenartiger an, diese Kleidung nun tatsächlich selbst zu tragen. Wenn Tante Harriet sie jetzt sehen könnte, würde sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, überlegte sie.
Kurz darauf traf sie Sophie am Fuß der Treppe, die zum Fechtsaal des Instituts hinaufführte. Weder das Dienstmädchen noch sie selbst verloren ein Wort. Sie tauschten nur ein aufmunterndes Lächeln aus. Dann erklomm Tessa als Erste die Stufen der schmalen Stiege, die so alt war, dass das Holz des Geländers bereits zu splittern begonnen hatte. Sie fand es eigenartig, eine Treppe hinaufzugehen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, den Rock zu schürzen und nicht über den Saum zu stolpern. Obwohl ihr Körper vollständig bedeckt war, kam sie sich in ihrer Trainingsmontur seltsam nackt vor.
Allerdings schenkte ihr Sophies Anwesenheit, die sich in ihrer eigenen Schattenjägerkluft ebenfalls sichtlich unwohl zu fühlen schien, ein wenig Trost. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichten, drückte Sophie die Tür auf und die beiden betraten gemeinsam schweigend den Fechtsaal.
Offenbar befanden sie sich oberhalb des Instituts, in einem Raum, der an den Dachboden angrenzte und etwa doppelt so groß sein musste, überlegte Tessa. Der gebohnerte Holzboden war durch schwarze Linien in Segmente und Muster unterteilt - Kreisformen und Quadrate, manche mit Zahlen versehen. Lange, elastische Seile baumelten von hohen
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