Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
herkömmliche Familie von Stand als unter ihrer Würde empfinden würde: Die Nephilim entfachten selbst das Feuer im Kamin, erledigten einen Teil der Einkäufe und hielten solche Räume wie den Fechtsaal und die Waffenkammer tadellos in Ordnung. Außerdem hatte der vertraute Umgang, den Agatha und Thomas mit ihren Herrschaften pflegten, Sophie zutiefst schockiert - schließlich wusste sie nicht, dass ihre Kollegen aus Familien stammten, die den Schattenjägern bereits seit Generationen dienten oder sogar selbst magische Fähigkeiten besaßen. Sophie stammte dagegen aus einer mittellosen Familie und war in ihrer Anfangszeit als Dienstmagd oft als »dumm« bezeichnet und geschlagen worden - weil sie exquisite Möbel und echtes Silber nicht kannte und noch nie feines Geschirr gesehen hatte, das so dünn war, dass man den dunklen Tee durch das Porzellan schimmern sehen konnte. Aber sie hatte rasch dazugelernt, und als sich abzeichnete, dass sie einmal zu einer echten Schönheit heranwachsen würde, hatte man sie zum Stubenmädchen befördert.
Doch das Schicksal eines Stubenmädchens war nicht ohne Tücken: Sie musste hübsch und attraktiv bleiben, eine Zierde für den Haushalt, und aus diesem Grund war ihr Gehalt gesunken, mit jedem Jahr, das nach ihrem achtzehnten Geburtstag verstrich.
Für Sophie war die Anstellung im Institut eine Erleichterung gewesen, denn hier erinnerte niemand sie ständig daran, dass sie fast zwanzig war, und niemand verlangte von ihr, dass sie an die Wand starrte oder nur dann sprach, wenn sie zuvor angesprochen wurde. Sie fühlte sich hier derart befreit, dass es die Verstümmelung, die ihr früherer Arbeitgeber ihrem hübschen Gesicht zugefügt hatte, fast schon wert schien. Zwar mied sie nach wie vor jeden Blick in den Spiegel, aber der heiße Schmerz angesichts des Verlusts ihrer Schönheit hatte nachgelassen. Während Jessamine sich manchmal über die lange Narbe lustig machte, die Sophies Wange verunstaltete, schienen die anderen sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Nur Will ließ gelegentlich eine unerfreuliche Bemerkung fallen - allerdings auf eine fast mechanische Art und Weise, als ob ein solches Verhalten von ihm erwartet wurde, er aber nicht mit dem Herzen dabei war.
Aber das alles war früher gewesen, bevor sie sich in Jem verliebt hatte.
Sie erkannte seine Stimme nun, da er den Flur entlangkam, vergnügt lachend und in ein Gespräch mit Miss Tessa vertieft. Sophie verspürte einen seltsamen kleinen Stich in der Brust. Eifersucht. Sie verachtete sich selbst dafür, konnte aber nichts dagegen tun. Miss Tessa war stets freundlich zu ihr gewesen und in ihren großen grauen Augen lag ein Ausdruck tiefer Verwundbarkeit - ein derartiges Bedürfnis nach Freundschaft, dass man sie einfach mögen musste. Und dennoch: die Art und Weise, mit der der junge Herr sie anschaute ... und Tessa schien es nicht einmal zu bemerken.
Nein, Sophie konnte den Gedanken nicht ertragen, den beiden nun im Flur zu begegnen. Entschlossen drückte sie Eimer und Besen an die Brust, öffnete die nächstbeste Tür und schlüpfte rasch hindurch. Bei dem dahinterliegenden Raum handelte es sich wie bei fast allen Gemächern des Instituts um ein ungenutztes Schlafzimmer, das für Schattenjäger auf der Durchreise bereitgehalten wurde. In der Regel wischte Sophie die Zimmer etwa alle vierzehn Tage, falls eines nicht zwischenzeitlich von einem Gast genutzt wurde. Und dieses hier war recht lange nicht geputzt worden - Staubteilchen tanzten im Licht, das durch das Fenster hereinfiel, und Sophie musste ein Niesen unterdrücken, während sie durch den Türspalt in den Korridor hinausspähte.
Sie hatte sich nicht geirrt: Es waren tatsächlich Jem und Tessa, die durch den Flur in ihre Richtung kamen, offensichtlich sehr in ein Gespräch vertieft. Jem trug etwas auf den Armen, dem Anschein nach eine zusammengefaltete Kampfmontur, und Tessa lachte über irgendetwas, das er gerade gesagt hatte. Dabei schaute sie zu Boden und Jem betrachtete sie so eingehend und intensiv, wie man einen anderen Menschen nur musterte, wenn man sich unbeobachtet fühlte. Außerdem hatte er wieder jenen Ausdruck im Gesicht, den er normalerweise ausschließlich beim Geigenspiel zeigte - als ginge er vollständig im Glück des Augenblicks auf.
Sophie versetzte es einen Stich ins Herz. Jem war so wunderschön; diese Ansicht hatte sie von Anfang an vertreten. Die meisten Leute schwärmten stundenlang von Will, wie gut er aussähe und so weiter, aber sie
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