Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
hielt Jem für tausend Mal attraktiver. Er besaß das entrückte Erscheinungsbild eines Engels in einem Gemälde, und obwohl sie wusste, dass die silberne Tönung seiner Haare und seiner Haut von einem Arzneimittel bewirkt wurde, welches er gegen seine Erkrankung einnehmen musste, machte sie ihn in ihren Augen nur noch attraktiver. Darüber hinaus war er sanft, beständig und freundlich. Der Gedanke an seine Hände, die ihr die Haare aus dem Gesicht strichen, schenkte ihr ein behagliches Gefühl - während ihr normalerweise allein schon die Vorstellung, von einem fremden Mann oder selbst einem Jungen berührt zu werden, Übelkeit bereitete. Jems Hände waren so behutsam, so anmutig ...
»Ich kann kaum glauben, dass sie morgen wirklich hierher kommen werden«, sagte Tessa in diesem Moment und schaute zu Jem hoch. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sophie und ich Benedict Lightwood zum Fraß vorgeworfen werden, um ihn zu beschwichtigen, so wie man einen Hund mit einem Knochen besänftigt. Es kann ihn doch nicht ernsthaft interessieren, ob wir gut trainiert sind oder nicht. Lightwood will doch nur seine Söhne ins Institut schleusen, um Charlotte eins auszuwischen.«
»Das ist wahr«, räumte Jem ein. »Aber warum solltet ihr das Training nicht nutzen, wenn es schon einmal angeboten wird? Aus diesem Grund versucht Charlotte ja auch, Jessamine zur Teilnahme zu bewegen. Und was dich betrifft: Selbst wenn oder vielmehr sobald Mortmain nicht länger eine Bedrohung darstellt, wird es immer Leute geben, die sich von deiner besonderen Begabung und der damit verbundenen Macht angezogen fühlen werden. Da könnte es durchaus nicht schaden, wenn du lernst, sie abzuwehren.«
Tessas Hand griff unwillkürlich zu dem Klockwerk-Engel an ihrer Halskette - eine gewohnheitsmäßige Geste, der sich die junge Gestaltwandlerin wahrscheinlich gar nicht bewusst war, wie Sophie vermutete. »Jessies Antwort kenne ich jetzt schon: ›Ich benötige diese Hilfe nur bei der Abwehr attraktiver Verehrer.‹«
»Hätte sie denn nicht lieber Unterstützung bei der Abwehr der unattraktiven Bewerber?«, fragte Jem.
»Nicht wenn es sich dabei um Irdische handelt.« Tessa lächelte. »Sie würde einen hässlichen Irdischen jederzeit einem attraktiven Nephilim vorziehen.«
»Nun, das wirft mich dann ja wohl direkt aus dem Rennen, oder?«, bemerkte Jem gespielt verdrossen und Tessa lachte erneut.
»Es ist jammerschade«, sagte sie. »Jemand so Hübsches wie Jessamine müsste doch nun wirklich freie Auswahl haben. Aber sie ist so fest entschlossen, dass ein Schattenjäger auf keinen Fall infrage kommt ...«
»Du bist viel hübscher«, warf Jem ein.
Überrascht schaute Tessa ihn an und ihre Wangen röteten sich.
Erneut verspürte Sophie den Stachel der Eifersucht in ihrer Brust, obwohl sie Jem insgeheim recht geben musste: Jessamine war durchaus eine Schönheit, eine Westentaschenvenus, wie sie im Buche stand - zierlich, aber mit sinnlichen Kurven. Doch die säuerliche Miene, die sie ständig zur Schau stellte, verdarb ihr charmantes Flair. Tessa dagegen besaß eine warmherzige Ausstrahlung und dazu üppige dunkle Locken und ozeangraue Augen, die dem Betrachter immer mehr ans Herz wuchsen, je länger man sie kannte. Aus ihrem Gesicht sprachen Intelligenz und Humor, was man von Jessamine nicht behaupten konnte - oder zumindest zeigte sie es nicht.
Jem hielt vor Miss Jessamines Zimmer inne und klopfte an die Tür. Als niemand reagierte, zuckte er die Achseln, bückte sich und legte das dunkle Stoffbündel - die Schattenjägermontur - vor der Zimmertür ab.
»Die wird sie niemals anziehen«, bemerkte Tessa mit einem verschmitzten Lächeln.
Jem richtete sich wieder auf und erwiderte: »Ich habe Charlotte gegenüber nicht versprochen, Jessamine in die Montur hineinzuzwängen, sondern lediglich eingewilligt, sie ihr zu überbringen.« Und damit setzte er sich wieder in Bewegung, Tessa an seiner Seite.
»Ich weiß nicht, wie Charlotte es ertragen kann, so oft mit Bruder Enoch zu konferieren. Er ist mir nicht geheuer«, erklärte sie.
»Ach, ich weiß nicht. Ich stelle mir immer vor, dass die Brüder der Stille, wenn sie unter sich sind, uns gar nicht so unähnlich sind: Dass sie einander Streiche spielen, überbackene Käsesandwiches zubereiten ...«
»Ich hoffe, sie spielen Scharade«, warf Tessa trocken ein. »Dabei käme ihre natürliche Begabung endlich einmal gebührend zum Einsatz.«
Jem brach in schallendes Gelächter aus und dann bogen
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