Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
pünktlich zur Ratsversammlung zu erscheinen«, erklärte Jem, »aber ich wollte dir das hier noch zeigen.« Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete er um sich. »Poets’ Corner.«
Natürlich hatte Tessa von diesem Ort bereits gelesen - die Dichterecke war der Bereich der Westminster Abbey, in dem die größten Schriftsteller Englands begraben lagen. Tessas Blick fiel auf Chaucers graues Grabmal mit dem Baldachin und dann auf weitere vertraute Namen. »Edmund Spenser, oh, und Samuel Johnson«, stieß sie atemlos hervor, »und Coleridge und Robert Bums und Shakespeare ...«
»Er liegt nicht wirklich hier«, warf Jem rasch ein. »Es handelt sich nur um ein Denkmal. Genau wie bei Milton.«
»Ja, ich weiß, aber ...« Tessa sah ihn an und spürte, wie sie errötete. »Ich kann es nicht erklären. Es scheint mir fast so, als befände ich mich unter Freunden, hier mit all diesen Namen. Töricht, ich weiß ...«
»Nein, das ist keineswegs töricht.«
Tessa schenkte ihm ein Lächeln. »Woher hast du gewusst, was ich hier vor allen Dingen sehen wollte?«
»Wie hätte ich das nicht wissen können?«, erwiderte Jem. »Wann immer ich an dich denke, sehe ich dich vor meinem inneren Auge mit einem Buch in der Hand.« Rasch wandte er das Gesicht ab, doch Tessa konnte gerade noch einen Blick auf die verräterische Röte seiner Wangenknochen erhaschen. Er war so blass, dass er nicht einmal das leichteste Erröten verbergen konnte, überlegte Tessa - und stellte überrascht fest, mit welch großer Zuneigung sie dieser Gedanke erfüllte.
Im Laufe der vergangenen zwei Wochen war Jem ihr sehr ans Herz gewachsen. Will hatte sie geflissentlich ignoriert, Charlotte und Henry waren mit Fragen des Rats und der Leitung des Instituts beschäftigt und selbst Jessamine wirkte in letzter Zeit ständig geistesabwesend. Einzig Jem war immer für sie da. Er schien seine Rolle als persönlicher Fremdenführer sehr ernst zu nehmen und hatte ihr bereits den Hyde Park und Kew Gardens gezeigt, die National Gallery, das British Museum sowie den Tower of London mit dem Traitors’ Gate. Sie hatten beim Melken der Kühe im St. James’s Park zugeschaut und die Obst- und Gemüsehändler in Covent Garden beobachtet, die lauthals ihre Waren anpriesen. Vom Themseufer aus hatten sie Boote und Schiffe betrachtet, die über den sonnenglitzernden Fluss segelten, und sie hatten eine Spezialität gekostet, die als »Türstopper« bezeichnet wurde - was in Tessas Ohren schrecklich klang, sich aber als ein Sandwich mit reichlich Butter und Zucker auf den Weißbrotscheiben entpuppte. Im Laufe der Tage hatte Tessa gespürt, wie sie ihrem stillen, unterdrückten Kummer über die Ereignisse rund um Nate und Will und dem Verlust ihres früheren Lebens langsam entwuchs - wie eine Pflanze, deren erste Triebe gefrorenen Boden durchbrachen. Einmal hatte sie sich sogar dabei ertappt, wie sie lauthals lachte. Und das alles verdankte sie Jem.
»Du bist wirklich ein guter Freund«, stieß sie nun hervor, und als er zu ihrer Überraschung schwieg, fügte sie hinzu: »Zumindest hoffe ich, dass wir gute Freunde sind. Du empfindest doch ebenso, nicht wahr, Jem?«
Der junge Schattenjäger wandte sich ihr zu, doch bevor er etwas erwidern konnte, ertönte eine düstere Grabesstimme aus den Schatten:
»Ihr Staubgebornen, bebt und seht,
Wie rasch das Fleisch allhier vergeht.
Manch ein königlich Gebein
Schläft in diesem Haufen Stein.«
[2]
Eine dunkle Gestalt trat zwischen zwei Grabdenkmälern hervor. Während Tessa überrascht blinzelte, spottete Jem in leicht resigniertem Ton: »Will. Dann hast du also doch noch beschlossen, uns mit deiner Anwesenheit zu beehren?«
»Ich habe nie behauptet, dass ich nicht zu erscheinen beabsichtige.« Als Will einen Schritt näher trat, erhellte das Licht aus dem Rosettenfenster hoch über ihnen seine Züge. Auch dieses Mal gelang es Tessa nicht, ihn zu betrachten, ohne jenes bedrückende Gefühl in der Brust zu spüren, jenes schmerzhafte Flattern ihres Herzens. Schwarze Haare, blaue Augen, elegant geschwungene Wangenknochen, dichte dunkle Wimpern und volle, sinnliche Lippen - man hätte ihn fast schon als hübsch bezeichnen können, wenn er nicht so groß und muskulös gewesen wäre. Tessa hatte ihre Hände über diese Arme wandern lassen und wusste, wie sie sich anfühlten: wie Eisen, bepackt mit dicken, harten Muskelsträngen. Und seine Hände, die ihren Kopf behutsam umfasst hatten, waren schlank und geschmeidig, mit rauen
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