Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Kutsche.
»Du musst damit vorsichtig sein«, fuhr Jem fort und zog seine Hand langsam zurück, wobei seine Finger einen Moment an Tessas Wange verweilten. »Du willst einem potenziellen Gegner doch keine Angriffsfläche bieten - etwas, woran er dich packen kann.«
»Oh ... ja ... natürlich.« Hastig wandte Tessa den Blick ab, schaute aus dem Fenster - und riss bestürzt die Augen auf. Die gelblichen Nebelschwaden hingen noch immer über den Straßen, aber dazwischen konnte man nun deutlich mehr erkennen. Sie befanden sich in einer schmalen Durchgangsstraße, obwohl man diese für Londoner Verhältnisse vielleicht sogar als breit bezeichnen musste. Die Luft war erfüllt von rußigem Kohlenstaub und Dreck und zahllose Menschen säumten die Straßen. Gekleidet in schmutzstarrende Lumpen, lehnten sie an den Mauern windschiefer Häuser und verfolgten die Kutsche mit ihren Blicken wie eine Meute hungriger Hunde einen Knochen.
Tessa sah eine Frau mit einem löchrigen Umhängetuch, einen Blumenkorb in der schlaffen Hand und einen Säugling in eine Ecke des Tuchs geschlagen und gegen ihre Schulter gedrückt. Das Kind hatte die Augen geschlossen; sein Gesicht wirkte bleich und es hatte den Anschein, als sei es sehr krank - oder sogar schon tot. Barfüßige Kinder, so schmutzig wie streunende Katzen, spielten auf der Straße; Frauen hockten in Gruppen auf den Stufen heruntergekommener Häuser, lehnten offensichtlich betrunken gegeneinander. Aber am schlimmsten waren die Männer: In ihren dreckigen, geflickten Mänteln und Hüten hingen sie zusammengesackt in den düsteren Gassen zwischen den Häusern, einen Ausdruck unendlicher Hoffnungslosigkeit so tief in die hageren Gesichter gemeißelt wie die Inschriften auf einem Grabstein.
»Reiche Londoner aus Mayfair und Chelsea unternehmen gern mitternächtliche Besichtigungstouren in Viertel wie dieses«, sagte Jem. Seine Stimme klang ungewöhnlich bitter für seine Verhältnisse. »Das nennen sie dann ›sich unter das Volk mischen‹.«
»Und halten sie auch an, um ... um irgendwie zu helfen?«
»Nein, nur die wenigsten. In der Regel wollen sie das Elend einfach nur begaffen, damit sie sich dann auf ihrer nächsten Teegesellschaft brüsten können, sie hätten echte ›Wegelagerer‹ und ›Bordsteinschwalben‹ oder einen ›Zitterhannes‹ gesehen. Die meisten steigen nicht einmal aus ihren Kutschen oder Omnibussen.«
»Was ist ein Zitterhannes?«
Jem betrachtete sie mit ruhigen silbernen Augen. »Ein bibbernder, dürftig bekleideter Bettler«, erklärte er. »Jemand, der mit hoher Wahrscheinlichkeit erfrieren wird.«
Tessa musste an die dicken Papierschichten denken, die über den Rissen in den Fensterscheiben ihrer New Yorker Wohnung geklebt hatten. Aber sie hatte zumindest ein Schlafzimmer gehabt, einen Ort, an dem sie sich hinlegen konnte, und Tante Harriet, die auf dem kleinen Küchenherd immer heißen Tee oder dampfende Suppe zubereitet hatte. Sie hatte großes Glück gehabt.
Die Kutsche kam an einer wenig einladenden Ecke abrupt zum Stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ergoss sich Licht aus den Fenstern eines Gasthauses auf den Gehweg, zusammen mit einem beständigen Strom Betrunkener - manche flankiert von freizügig gekleideten, grell geschminkten Frauen, die sich schwankend am Arm ihres Begleiters festhielten. In der Ferne lallte jemand: »Vernehmt, oh Leut, die Moritat, die einst sich zugetragen hat ...«
Jem tastete nach Tessas Hand. »Ich kann dich nicht mithilfe von Zauberglanz vor den Blicken der Irdischen schützen. Also halt den Kopf gesenkt und bleib immer dicht in meiner Nähe«, mahnte er.
Tessa lächelte verschmitzt, zog ihre Hand aber nicht fort. »Das sagtest du bereits.«
Als Jem sich zu ihr vorbeugte und ihr ins Ohr wisperte, jagte sein warmer Atem ihr einen Schauer durch den Körper: »Und das meine ich sehr ernst.« Damit griff er an ihr vorbei zur Türklinke, schwang den Schlag auf und sprang auf den Gehweg. Dann half er Tessa beim Aussteigen und zog sie fest an seine Seite.
Ein wenig nervös schaute Tessa in beide Richtungen der Straße. Zwar ernteten sie ein paar gleichgültige Blicke, doch die meisten schenkten Jem und ihr keinerlei Beachtung. Gemeinsam eilten sie zu einem schäbigen Haus. Mehrere Stufen führten zu einer schmalen, rot lackierten Haustür, auf denen aber im Gegensatz zu den umliegenden Treppen niemand herumlungerte.
Rasch stieg Jem die Stufen hinauf, zog Tessa dabei hinter sich her und klopfte laut an
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