Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
in dem engen Satinkleid wie ein Metronom hin und her wiegten. »Madran meint, wir haben, was du suchst, mein kleiner Silberjunge«, hauchte sie mit rauchiger Stimme und fuhr Jem mit einem langen blutroten Fingernagel über die Wange. »Nicht nötig, sich länger zu verstellen.«
Bei ihrer Berührung zuckte Jem schlagartig zurück. Nie zuvor hatte Tessa ihn derartig aus der Fassung gebracht erlebt. »Ich sagte doch bereits, dass wir auf der Suche nach einem Freund sind«, fauchte er. »Ein Nephilim. Blaue Augen, schwarzes Haar ...« Und dann fragte er mit erhobener Stimme: »Ta xian zai zai na li?«
Die Frau sah ihn einen Moment an und schüttelte schließlich den Kopf. »Du bist ein Narr«, erwiderte sie. »Auf dem Markt ist nur noch wenig Yin Fen zu bekommen, und wenn die letzten Reserven aufgebraucht sind, wirst du sterben. Natürlich versuchen wir, neue Quellen zu erschließen, aber die Nachfrage ist in letzter Zeit ...«
»Ersparen Sie uns Ihre Versuche, Ihre Waren feilzubieten«, unterbrach Tessa sie plötzlich aufgebracht. Sie konnte den Ausdruck auf Jems Gesicht nicht ertragen, den jedes Wort wie ein Messerstich zu treffen schien. Kein Wunder, dass Will die Substanz immer für ihn besorgte. »Wo ist unser Freund?«
Die Hexe reagierte mit einem bösen Zischen und zeigte dann achselzuckend auf die Kojen an den Wänden. »Dahinten.«
Jem erbleichte, während Tessa in die angedeutete Richtung starrte. Sie hatte angenommen, die Betten seien leer, weil sich während der ganzen Zeit nichts darin gerührt hatte. Doch bei näherem Hinsehen wurde ihr bewusst, dass jede der Schlafstätten von einer reglosen Gestalt belegt war. Einige lagen auf der Seite, einen Arm über der Bettkante, die Finger schlaff gespreizt; aber die meisten ruhten auf dem Rücken und starrten an die Decke oder die Koje über ihnen.
Wortlos durchquerte Jem den Raum, dicht gefolgt von Tessa. Als sie sich den Betten näherten, erkannte Tessa, dass es sich nicht bei allen Besuchern um Menschen handelte. Im Vorbeigehen streifte ihr Blick blaue, violette, rote und grüne Gesichter; grüne Haare - so lang und verworren wie ein Nest aus Seegras - auf einem schmutzigen Kopfkissen; krallenbewehrte Finger, die den Bettrahmen umklammerten, während die Gestalt in der Koje gequält aufstöhnte. Ein paar Meter weiter kicherte jemand leise und hoffnungslos, ein Geräusch, das trauriger war als jedes Wimmern. Und eine andere Stimme sang wieder und wieder dasselbe Kinderlied:
»Das Geld musst du bringen,
St. Clements Glocken klingen.
Wann wirst du endlich löhnen?,
Hört man Old Bailey dröhnen.
Sobald ich hab die Flocken,
Bimmeln die Shoreditch-Glocken ...«
»Will«, wisperte Jem. Er hatte vor einem Bett etwa in der Mitte der Wand innegehalten und lehnte nun dagegen, als würden ihm seine Beine jeden Moment den Dienst versagen.
In der Koje lag Will, in ein dunkles, fadenscheiniges Laken gehüllt, das sich teilweise um seine Hüften gewickelt hatte. Er trug nur seine Hose und ein Hemd; sein Waffengürtel hing an einem Haken im Inneren der Koje. Seine nackten Füße schauten unter der verdrehten Decke hervor und er hatte die Lider halb geschlossen, sodass man das Blau der Pupillen unter den dichten dunklen Wimpern nur ahnen konnte. Seine Haare waren schweißfeucht und klebten ihm an der Stirn; seine Wangen wirkten fiebrig gerötet und seine Brust hob und senkte sich stoßweise, als habe er Probleme beim Atmen.
Tessa streckte einen Arm aus und legte den Handrücken an seine Stirn. Sie war glühend heiß. »Jem«, sagte sie leise. »Jem, wir müssen ihn sofort hier rausbringen.«
Der Mann in der benachbarten Koje, bei dem es sich eigentlich nicht um einen Irdischen, sondern vielmehr um ein Wesen mit kurzem, gekrümmtem Rumpf und Hufen statt Füßen handelte, sang noch immer:
»Und wann wird das sein?,
Fällt Stepney lautstark ein.
Ich zahl’s dir morgen schon,
Dröhnt Bow mit dumpfem Ton.«
Jem stand weiterhin da und blickte auf Will herab, vollkommen reglos. Er schien wie erstarrt. Nur auf seinem kreideweißen Gesicht zeichneten sich inzwischen hektische rote Flecken ab.
»Jem!«, flüsterte Tessa eindringlich. »Bitte! Hilf mir, ihn auf die Beine zu bekommen.« Als Jem noch immer nicht reagierte, beugte sie sich zu Will vor, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn. »Will. Will, wach auf, bitte.«
Doch Will stöhnte nur und drehte sich von ihr weg, wobei er den Kopf unter seinem Arm begrub.
Er war ein Schattenjäger, überlegte Tessa, fast
Weitere Kostenlose Bücher