Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
deinetwegen zurückgekehrt«, schnaubte Gideon aufgebracht. »Nur deinetwegen ...«
Sophie und Tessa hatten die ganze Zeit an der Tür gehorcht, jede ein Ohr an das Holz gepresst. Doch in diesem Moment gab die nur angelehnte Tür nach und schwang auf. Hastig richteten sich die beiden Mädchen auf und Tessa hoffte inständig, dass man ihren Gesichtern nicht ansah, dass sie gelauscht hatten.
Gabriel und Gideon standen in einem Lichtkegel in der Mitte des Raumes und starrten einander aufgebracht an. Und Tessa bemerkte etwas, das ihr zuvor nicht aufgefallen war: Obwohl Gabriel jünger war, überragte er seinen Bruder um ein paar Zentimeter. Gideon wirkte dagegen muskulöser, mit breiteren Schultern. Nun fuhr er sich mit der Hand durch die rotblonden Haare und nickte den beiden Mädchen nur kurz zu, als diese in der Tür erschienen: »Guten Tag.«
Dagegen steuerte Gabriel Lightwood unverzüglich auf sie zu. Er war wirklich ziemlich stattlich, dachte Tessa und legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Da sie selbst ziemlich groß war, sah sie sich nur selten genötigt, zu einem Mann aufsehen zu müssen - auch wenn Will und Jem beide deutlich größer waren als sie selbst.
»Miss Lovelace beehrt uns bedauerlicherweise noch immer nicht mit ihrer Anwesenheit?«, fragte Gabriel, ohne sich die Mühe zu machen, die beiden Mädchen zu begrüßen. Sein Gesicht wirkte ruhig und lediglich der hämmernde Pulsschlag an seinem Hals - den an dieser Stelle eine Rune für Tapferkeit im Kampf zierte - verriet seine vorherige Gemütsbewegung.
»Sie leidet noch immer an Kopfschmerzen«, erklärte Tessa und folgte ihm in den Fechtsaal. »Wir wissen nicht, wie lange sie noch unpässlich sein wird.«
»Vermutlich so lange, bis diese Unterrichtsstunden vorüber sind«, bemerkte Gideon so trocken, dass Sophie laut losprustete, woraufhin Tessa überrascht aufschaute. Natürlich fing das Dienstmädchen sich sofort wieder. Doch Gideon warf ihr einen erstaunten, fast anerkennenden Blick zu, als wäre er es nicht gewohnt, jemanden über seine Scherze lachen zu hören.
Seufzend nahm Gabriel zwei lange Stöcke aus ihren Halterungen an der Wand und reichte einen davon Tessa. »Heute werden wir uns mit den Themen ›Parieren und Abwehren‹ beschäftigen ...«
Wie üblich lag Tessa an diesem Abend noch lange wach, ehe sich endlich ein unruhiger Schlaf einstellte. Seit einiger Zeit quälten sie Albträume - in der Regel von Mortmain, seinen kalten grauen Augen und seiner noch kälteren Stimme, mit der er verkündete, sie erschaffen zu haben: Es gibt keine wahre Tessa Gray.
Diesem Mann, den sie zu finden suchten, hatte sie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und dennoch wusste sie noch immer nicht, was er tatsächlich von ihr wollte. Er beabsichtigte, sie zu heiraten, aber warum? Er gedachte, ihre Fähigkeit für sich in Anspruch zu nehmen, doch zu welchem Zweck? Die Erinnerung an seine kalten, echsenartigen Augen ließ Tessa erschaudern, aber der Gedanke, dass er möglicherweise etwas mit ihrer Zeugung zu tun hatte, war noch viel schlimmer. Tessa konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand - nicht einmal Jem, der wundervolle, verständnisvolle Jem - auch nur ansatzweise nachzuvollziehen vermochte, wie heiß der Wunsch in ihr brannte, endlich herauszufinden, was sie war. Oder wie groß ihre Angst war, eine Art Monster zu sein - eine Angst, die sie mitten in der Nacht hochschrecken und keuchend über ihre eigene Haut kratzen ließ, als ob sie sie abziehen könnte, um das Teufelsfell darunter zum Vorschein zu bringen.
Plötzlich hörte Tessa ein Rascheln im Flur und dann ein leises Knistern - irgendetwas wurde behutsam an ihre Zimmertür gelehnt. Nach einem kurzen Moment schlüpfte Tessa aus dem Bett und huschte zur Tür. Doch als sie sie vorsichtig öffnete, fand sie den Korridor verlassen vor. Lediglich die lieblichen Töne von Jems Geige drangen aus seinem Zimmer durch den Gang. Erst als Tessa nach unten schaute, entdeckte sie ein dünnes grünes Buch zu ihren Füßen. Sie hob es auf und warf einen Blick auf die Worte, die in Goldlettern auf den Buchrücken geprägt waren: » Vathek, von William Beckford.«
Tessa schloss die Tür hinter sich, trug das Buch zu ihrem Bett und ließ sich auf die Bettkante sinken, um es in Ruhe inspizieren zu können. Will musste es vor ihre Tür gestellt haben - jemand anderes kam dafür nicht infrage. Aber warum ? Warum diese seltsamen kleinen Gefälligkeiten im Schutze
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